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Vertrag als Verfahren der Normsetzung


Bei einer vertragstheoretischen Begründung von Normen entsteht die Pflicht einer Person, bestimmte Handlungen zu tun oder zu unterlassen, aus einem Versprechen, das diese Person abgegeben hat. Das Versprechen lässt sich sprachlich ausdrücken durch den Satz: "Ich (Person A) verspreche Dir (Person B), die Handlung x zu tun (bzw. zu unterlassen)." Eine gleichbedeutende Formulierung wäre: "Ich (Person A) verpflichte mich Dir (Person B) gegenüber, die Handlung x zu tun (bzw. zu unterlassen)."

Wenn mehrere Personen wechselseitige Versprechen abgeben, die einander bedingen, so sagt man, dass sie einen "Vertrag schließen". (Anstelle von "einen Vertrag schließen" werden auch die Ausdrücke "etwas vereinbaren", "etwas verabreden", "übereinkommen, dass ..." verwendet.)

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Ein Vertrag kann zwischen zwei oder mehr Parteien geschlossen werden. Den Kern eines zweiseitigen Vertrages kann man sprachlich folgendermaßen ausdrücken: "Hiermit verspreche ich (Person A) Dir (Person B), x zu tun, wenn Du mir versprichst, y zu tun; und Du versprichst mir, y zu tun, wenn ich Dir verspreche, x zu tun." Als gemeinsame Handlung einer Mehrzahl von Personen formuliert hieße das: "Wir (die Personen A und B) haben miteinander vereinbart, dass A x tun soll und dass B y tun soll."

Die Handlungen x und y, zu denen sich die vertragschließenden Parteien verpflichten, müssen nicht gleichartig sein. Bei einem Kaufvertrag verpflichtet sich z. B. A, eine bestimmte Summe Geld an B zu zahlen, und B verpflichtet sich, A dafür ein bestimmtes Gut auszuhändigen. Eine wichtige Art von Verträgen sind Verträge, in denen die vertragschließenden Parteien sich in gleicher Weise verpflichten, bestimmte Arten von Handlungen zu tun oder zu unterlassen, sofern bestimmte Bedingungen gegeben (nicht gegeben) sind. Einen solchen Vertrag kann man in die Worte fassen: "Wir (die Personen A, B, C, D ...) versprechen einander, Handlungen der Art x unter bestimmten Bedingungen zu tun (zu unterlassen)." 

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Ein Versprechen wird gewöhnlich gegenüber bestimmten Personen abgegeben. Insofern entsteht die Pflicht, die versprochene Handlung zu tun (im Folgenden ist mit "tun" immer auch "unterlassen" gemeint) erst einmal nur gegenüber diesen Personen, den Adressaten des Versprechens. Folglich haben andere Personen erstmal keine Berechtigung, vom Versprechenden die Einhaltung des Versprechens zu fordern.

Wenn ein Versprechen ohne Nennung eines Adressaten abgegeben wird ("Ich verspreche, x zu tun"), so wird dies Versprechen unausgesprochen auf der Grundlage abgegeben, dass der Versprechende Mitglied einer Gemeinschaft ist, in der die Norm gilt: "Versprechen soll man halten". Die ungenannten Adressaten eines solchen Versprechens sind alle Mitglieder der Gemeinschaft. Hieraus leitet sich das Recht aller ab, die Einhaltung des Versprechens zu verlangen. Ein unadressiertes Versprechen nennt man auch ein "Gelöbnis" ("Hiermit gelobe ich, die Handlung x zu tun.") 

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Hauptbedingung für das Zustandekommen eines verpflichtenden Vertrages ist die Freiwilligkeit des Vertragsabschlusses. Die Parteien sind frei, einen Vertrag abzuschließen oder nicht. Das heißt, die Verpflichtung der Parteien entsteht durch Selbstverpflichtung. Eine erzwungene Selbstverpflichtung wäre ein Widerspruch in sich selbst.

Die Parteien sind freigestellt, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Daraus ergibt sich, dass eine rationale Partei nur dann einen Vertrag abschließt, wenn sie dadurch besser gestellt wird als sie es ohne diesen Vertrag wäre, d.h. bei einer Beibehaltung des Status quo.

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Insofern jede Partei von ihrer Auffassung der Wirklichkeit ausgeht und es keine Verpflichtung zu einer Aufklärung der andern Parteien über mögliche Irrtümer gibt, muss nur die jeweilige Partei subjektiv davon überzeugt sein, dass es sich um eine Verbesserung für sie handelt, gleichgültig ob diese Überzeugung richtig ist oder nicht.

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Es gibt eine unterschiedliche Verhandlungsmacht der Parteien, je nachdem, wie erträglich für sie der Zustand ohne Vertrag, der Status quo ist. Der Status quo muss dabei keineswegs ein statischer Zustand sein, sondern er enthält die gesamte naturgegebene Dynamik der jeweiligen Situation. Eine Partei, die auch ohne Vertrag gut zurecht kommt, ist in einer stärkeren Verhandlungsposition als eine Partei, der das Wasser bereits bis zum Halse steht. Es kann sogar sein, dass eine Partei im Status quo so gut gestellt ist, dass sie keinerlei Interesse an einer Veränderung durch einen Vertrag hat.

Um ein krasses Beispiel zu wählen: Aufgrund von Missernten kommt es zu einer Hungersnot, weil viele Menschen nichts mehr zu essen haben. Die Hungernden verhandeln mit Person A, die noch Vorräte an Nahrungsmitteln hat, um ihr Nahrungsmittel abzukaufen. Wenn A nicht zustimmt, weil ihr der Preis zu niedrig ist, so kommt es nicht zum Verkauf und "alles bleibt beim alten", dem Status quo. "Beibehaltung des Staus quo" heißt dann nicht, dass die Hungernden weiter hungern, sondern dass sie verhungern. Die eine Partei kann also schicksalhafte oder durch Dritte verursachte Notlagen der andern Partei für eine Gestaltung des Vertrages in ihrem Sinne ausnutzen (Problem des Wuchers).

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Solange die Wertungen und Präferenzen der möglichen Vertragspartner nicht bekannt sind, kann es nicht zu einem Vertrag zum gegenseitigen Vorteil kommen. Dies soll an einem Kaufvertrag veranschaulicht werden. Person A besitzt ein Auto, das sie verkaufen - d. h. gegen Geld tauschen - will. Person B möchte ein Auto erwerben und ist bereit, dafür zu zahlen. Beides sieht man den Personen nicht an. A und B müssen sich deshalb als Autokäufer bzw. -verkäufer so zu erkennen geben, dass die jeweils andere Seite davon Kenntnis bekommt.

Wenn sich der potentielle Käufer B und der potentielle Verkäufer A gegenüberstehen und zu einem Kaufvertrag kommen wollen, ist die Situation anders als bei einer Abstimmung. Bei einer Abstimmung stehen die Alternativen fest, die zur Abstimmung stehen. Bei einer vertraglichen Einigung über einen Kauf existieren dagegen erstmal soviel Alternativen, wie es mögliche Preise für das Gut gibt. B möchte möglichst wenig Geld für das Auto ausgeben, während A möglichst viel Geld für das Auto bekommen möchte. Insofern sind die Interessen von Käufer und Verkäufer entgegengesetzt. Bei einer Abstimmung nach der Veto-Regel (Wenn keine Einstimmigkeit besteht, bleibt es beim Status quo) würde im ersten Anlauf sicherlich keine Alternative von Verkäufer und Käufer einstimmig gewählt.

Zwar wäre der maximale Preis die Spitzenalternative von A, doch da bei fehlender Einstimmigkeit der Status quo weiter gilt, sind alle Alternativen im Interesse von A, die für A besser sind als der Status quo. Für A gibt es eine bestimmte Geldsumme, die ihm das Auto selber wert ist. Deshalb ist jeder Preis vorteilhaft für A, der höher ist als diese Geldsumme. Liegt der Preis unter dieser Geldsumme, so  kommt es zu keinem Vertrag.
(fortsetzen!!)
 

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Zum Vertragsabschluss ist keine gemeinsame Weltsicht der Parteien erforderlich. Wichtig ist nur, dass die vertragschließenden Parteien sich über die Art der von jeder Seite zu erbringenden Leistungen und über die Tatsache des Abschlusses des Vertrages einig sind.

Darf eine Vertragspartei bewusst Irrtümer beim Vertragspartner erzeugen? Sie darf es nicht in Bezug auf die Inhalte der Vereinbarung. Wenn z. B. eine Partei die Vertragserfüllung nur vortäuscht, dann erfüllt sie den Vertrag nicht.

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Welche Sanktionsmittel hat man in der Hand gegen denjenigen, der sich nicht an die vertragliche Vereinbarung hält? Wie ist es um die Einhaltung von Verträgen in einer Situation ohne Staat bestellt, wo es keine Gerichte gibt, die man anrufen kann und deren Urteil durch staatlichen Zwang durchsetzbar ist?

Das wichtigste Sanktionsmittel ist wohl die Drohung, dass man nie wieder mit jemandem einen Vertrag schließen wird, der einmal vertragsbrüchig geworden ist. Insofern als es sich um eine wiederkehrende Situationen handelt, hat diese Sanktion Gewicht.

Hinzu kommt, dass der "Ruf" der Unzuverlässigkeit und der Vertragsbrüchigkeit auch das Verhalten Dritter beeinflusst. Damit verliert der Vertragsbrüchige praktisch sämtliche Möglichkeiten der vertraglichen Zusammenarbeit. Sein "Ruf" als zuverlässiger Vertragspartner ist zerstört. Das Wort "Rufmord" drückt das große Gewicht aus, das ein "guter Ruf" im sozialen Umgang und vor allem im Geschäftsleben hat.

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Um auch unter Bedingungen der Feindschaft die Vorteile des Tausches und des Handelns zu nutzen, gab es wohl immer befriedete Handelsplätze oder auch bestimmte Zeiten und Tage, an denen die Feindseligkeiten ruhten.

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Um Vertrauen zu schaffen, kann man das Versprechen feierlich verstärken: man schwört, man beeidet, man verspricht "hoch und heilig", den Vertrag zu erfüllen. Man beteuert seine ehrlichen Absichten, man gibt sein "Ehrenwort", man gesteht dem andern für den Fall des Wortbruchs das Recht zu, alles erdenklich Schlimme gegen einen selbst tun zu dürfen (vereinbarte Vertragsstrafen), man schwört beim "Barte des Propheten", bei der Ehre seiner Eltern usw.

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Wenn ein Vertrag über Leistungen geschlossen wird, die zeitlich versetzt erfolgen (z. B. "Erst helfe ich dir bei deiner Ernte, dann hilfst du mir bei meiner Ernte" ), so bedarf es des Vertrauens, dass der andere sein Versprechen auch hält, nachdem ich meine Leistung erbracht habe und er seinen Vorteil bereits gehabt hat.

Deshalb gibt es Verfahrensweisen, um das Risiko der Nichterfüllung möglichst gering zu halten: z. B. durch gleichzeitiges Erbringen der Leistung: Du gibst mir jetzt das Geld und ich gebe dir jetzt die Ware. Die gleichzeitige gegenseitige Übergabe der Tauschobjekte führt unmittelbar zum Besitzerwechsel und damit zur Erfüllung des Vertrages.

Ein anderes Verfahren ist die wechselseitige Erbringung der Leistung "Zug um Zug". Bevor ich in meinen Leistungen fortfahre, warte ich erstmal ab, ob der andere ebenfalls leistet. Dazu müssen die wechselseitigen Leistungen jedoch in zeitlich getrennt zu erbringende Teilleistungen aufteilbar sein. Eine weitere Möglichkeit ist das Übergeben eines Pfandes, also einer Wertsache, die der andere solange behalten darf, wie ich meine versprochene Leistung noch nicht erbracht habe.

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Damit ein Vertrag über die Beendigung eines Krieges geschlossen werden kann, muss darüber verhandelt werden, man muss miteinander sprechen. Das erfordert räumliche Nähe der Kontrahenten (es sei denn es gibt funktionierende Telefone).

In der Begegnung ist man verletzlich: man trifft sich, um zu verhandeln und der andere nutzt die Gelegenheit, um einen Feind gefangen zu nehmen oder gar zu töten. Deshalb ist die Garantie des "freien Geleits" für die Verhandlungsführer gewöhnlich ein schwieriger Punkt. Kann ich der Zusicherung freien Geleits durch den Feind vertrauen? Hier setzt der Vertrag bereits eine minimale Moralität voraus.

Im modernen Völkerrecht ist dies Problem durch die Immunität der Diplomaten und die Exterritorialität der Diplomatensitze ansatzweise gelöst worden.

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Die Entstehung von vertraglichen Vereinbarungen:
Am Anfang steht vielleicht eine einseitige Erklärung: "Wenn du mich nicht angreifst, werde ich dich auch nicht angreifen." Wenn der andere sich entsprechend verhält, wird er in Ruhe gelassen.

Allerdings gibt es so noch kein Vertrauen. Wie stellt sich Vertrauen her? Es geht um Vertrauen in die Absichten des andern.

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Probleme der vertraglichen Einigung: Insofern als Verträge kündbar sind, ergeben sich aus ihnen keine Normen, die über die Zeit stabil sind. Es müsste sich deshalb um nicht kündbare Verträge handeln, die für immer gelten. Das macht jedoch wenig Sinn, da sich die Verhältnisse wandeln und da sich auch das Wissen und die Handlungsmöglichkeiten wandeln.

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Verträge sind auch immer an konkrete Verhandlungen mit bestimmten Parteien gebunden. Universalität ließe sich nur durch eine gedanklich fingierte Verhandlungssituation mit allen Beteiligten erreichen.

Wenn die tatsächliche vertragliche Einigung die letzte Grundlage bildet, stellt sich die Frage, wie die Pflicht zur Einhaltung des Vertrages hergeleitet wird. Naheliegend ist hier die Entstehung der Pflicht aus der geäußerten Selbstverpflichtung eines mündigen Individuums.

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Bevor es zu Verträgen kommt, kann eine Koordination der Handlungen bereits durch eine wechselseitige Information über die eigenen Handlungsabsichten erfolgen. Man teilt sich gegenseitig seine Absichten mit über das, was man zu tun gedenkt, so dass jeder sich auf die Handlungen des andern einstellen kann. Man versucht dabei noch nicht, das Handeln des andern zu beeinflussen.

Dies kann noch "unverbindlich" sein, d. h. dass jeder seine geäußerten Absichten auch noch ändern darf und sich damit noch nicht festlegt. Allerdings bringt diese gegenseitige Information im voraus noch wenig, denn man weiß dann nicht, wieweit man sich auf die Absichtserklärungen des andern verlassen kann. Deshalb kommt meist noch eine Informationspflicht für den Fall einer Änderung der eigenen Absichten hinzu.

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Wenn jemand etwas "verbindlich" äußert, dann:
- "übernimmt er dafür die volle Verantwortung"
- "kann man ihn deswegen zur Rechenschaft ziehen,"
- "dann hat er sich darauf festgelegt, "
- "dann haftet er für die Erfüllung der Äußerung"

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Selbstverpflichtung
"Warum soll ich das tun (unterlassen)?"

Eine Antwort darauf (vielleicht die einzige?) ist: "Weil du dazu verpflichtest bist".

"Wer kann mich zu etwas verpflichten? Wenn mich irgendjemand zu etwas verpflichten will, ohne dass ich dem zuvor zugestimmt habe, so gibt es für mich noch keinen Grund, diese Verpflichtung als solche anzuerkennen. Letztlich kann nur ich selbst mich verpflichten".

 (Von Kant stammt wohl der Satz: "Niemand ist obligiret, es sei denn, er hat zuvor consentiret" - oder so ähnlich.)

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A sagt gegenüber B: "Hiermit verpflichte ich mich, xyz zu tun".

Dies ist eine "performative" Äußerung (Searle). Sie erzeugt ein neues soziales Faktum, sie verändert die soziale Situation:

Wenn A diesen Satz sagt und trotzdem nicht xyz tut,
- dann kann B ihm dies "vorwerfen",
- dann "schuldet" A dem B die Ausführung von xyz,
- dann ist A "verpflichtet", xyz zu tun,
- dann "verletzt A seine Pflicht und Schuldigkeit",
- dann "bricht A sein Wort",
- dann "hält A nicht sein Versprechen"

Man kann sich nicht nur zur Befolgung bestimmter inhaltlich bestimmter Normen verpflichten. Man kann sich auch verpflichten, den Normsetzungen einer bestimmten Instanz (z. B. eines nach Mehrheit entscheidenden Gremiums oder eines Anführers) zu befolgen. In diesem Fall ist die Selbstverpflichtung schon indirekt. Und sie kann noch sehr viel indirekter werden, wenn die normsetzende Instanz in sich noch hierarchisch gegliedert ist. Dann verpflichte ich mich sogar, mehrfach abgeleiteten Normsetzungsinstanzen zu gehorchen.

Eine weitere Verstärkung der Indirektheit kommt dadurch zustande, dass Menschen in eine bestehende soziale Ordnung hineingeboren werden und als hilfsbedürftige und unmündige Mitglieder erstmal "gehorchen" müssen, bevor sie als Erwachsene die Frage stellen können, ob sie die Verpflichtungen überhaupt nachvollziehen und bejahen können, die sich aus der bestehenden sozialen Ordnung ergeben.

Die grundlegende Notwendigkeit der Selbstverpflichtung verschwindet dadurch fast aus dem Bewusstsein.

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Wie entstehen "naturwüchsig" soziale Normen? Etwa durch Versprechen? "Ich erkläre hiermit öffentlich (vor aller Welt), dass ich soundso handeln werde". "Ich gebe mein Ehrenwort, dass ich soundso handeln werde. Du kannst mir vertrauen (bzw. glauben). Wenn ich wortbrüchig werde, dann will ich ein ehrloser Lump genannt werden." "Wenn ich wortbrüchig werde, darfst du das Pfand behalten, das ich dir hiermit übergebe." Das Pfand ist eine Sicherheit dafür, dass das Versprechen eingehalten wird, denn der Gläubiger darf das Pfand dann behalten. Es gibt dem Schuldner ein Motiv, sein Versprechen zu halten und es entschädigt den Gläubiger für das nicht gehaltene Versprechen.

Das Versprechen mit Ehrenwort ist nur wirksam innerhalb einer überschaubaren sozialen Gemeinschaft. Wenn mir ein Fremder auf der Durchreise sein Ehrenwort gibt, den ich in Zukunft niemals wieder sehen werde, so kann dem Fremden sein gebrochenes Ehrenwort egal sein, da in der neuen Umgebung niemand von seiner Wortbrüchigkeit weiß.

Die Selbstverpflichtung unter der Bedingung der Gegenseitigkeit: "Ich verpflichte mich hiermit zur Befolgung der Normen x, y, z, wenn du dich ebenfalls dazu verpflichtest".

Oder im Mehrpersonen-Fall: "Ich verpflichte mich zur Befolgung der Normen x, y, z, wenn alle anderen sich ebenfalls dazu verpflichten".

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Zum vollständigen Inhalt eines Vertrages gehört nicht nur das, was vereinbart wurde, sondern auch die Unterschrift der Vertragsparteien. Es spielt nicht nur eine Rolle, welche Normen gesetzt wurden, sondern auch, wer der Autor dieser Setzungen ist. Dies ist schon deshalb nötig, um zu prüfen, ob die normsetzenden Individuen ihre Befugnisse überschritten haben, indem sie nicht nur sich selbst verpflichteten sondern auch Dritte.

 

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Auseinandersetzung mit einem Anhänger der reinen Vertragstheorie

Der Vertragsansatz kommt nicht um den Argumentationsansatz herum, was sich z. B. durch das beweist, was wir gerade eben machen: wir argumentieren.

Wir argumentieren über die von Dir und mir behauptete "Richtigkeit" der eigenen Ansätze. Damit machen wir unausgesprochen die Voraussetzung, dass es Argumente gibt, die den andern zur Bejahung des für richtig erachteten Ansatzes bewegen können. Wir setzen voraus, dass der andere aus freier Einsicht zustimmen kann.

Wenn Du diese Voraussetzung nicht teilst, sondern mich z. B. nur durch persönliche Angriffe nach dem Muster: "Wie kannst Du nur so blöde sein, eine derartige Meinung zu haben" zum Abgehen von meiner Meinung und zur Akzeptierung Deines Ansatzes bewegen willst, so würde ich die Diskussion umgehend für sinnlos erklären und abbrechen.

Insofern muss sich auch der Vertragsansatz der Frage stellen, ob es für ihn (allgemein) akzeptable Argumente gibt.
 

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Du schreibst: "Der vertragliche Konsens beinhaltet ja schon das Argumentieren." Ob diese Aussage richtig ist, hängt davon ab, was man unter "Argumentieren" versteht. Wenn Argumentation dem Begründen (oder Widerlegen) von Behauptungen dient, wenn man also argumentiert, um den Geltungsanspruch von Behauptungen (oder deren Verneinung) einzulösen, dann kann man die Vertragsverhandlungen nur streckenweise als "Argumentation" bezeichnen.

Um zu einer vertraglichen Einigung zu gelangen, muss ich den andern vor allem davon überzeugen, dass die vertragliche Vereinbarung für ihn vorteilhaft ist. Dazu muss ich an seine eigenen Werthaltungen und Überzeugungen anschließen und ihm durch logische Schlussfolgerungen aufzeigen, wie vorteilhaft ein bestimmter Vertragsabschluss für ihn wäre. Etwa wenn der Autoverkäufer sagt: "Dieser Gebrauchtwagen entspricht genau Ihren Wünschen. Sie wollten doch möglichst geringe laufende Kosten und da ist dieser Diesel wegen der niedrigen Treibstoffkosten genau das richtige für Sie."

Dabei braucht der Verkäufer selber von der Richtigkeit der von ihm vorgetragenen Argumente gar nicht überzeugt zu sein. Er behält zum Beispiel das Wissen für sich, dass der Motor schon dermaßen zerschlissen ist, dass er außergewöhnlich viel Kraftstoff schluckt, während der Käufer bei seiner Entscheidung von einem durchschnittlichen Treibstoffverbrauch ausgeht.

Dabei müssen die unterschiedlichen Annahmen über den Treibstoffverbrauch nicht zu einer logisch widersprüchlichen vertraglichen Vereinbarung führen. Das wäre nur dann der Fall, wenn im Kaufvertrag Angaben über den Treibstoffverbrauch enthalten wären.

Bei Vertragsverhandlungen findet Argumentation also immer nur in einem sehr eingeschränkten Maße statt, was man daran sieht, dass die Argumentationsstrategie eines geschickten Verkäufers je nach Kundentyp sehr verschieden ist, obwohl es sich um das gleiche Auto handelt. Und normalerweise ist ein Vertragspartner nicht verpflichtet, den anderen Vertragspartner auf Irrtümer aufmerksam zu machen .

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Richtig ist, dass im Vertragsansatz auch Argumentation eine Rolle spielt, und dass im Argumentationsansatz auch Verträge eine Rolle spielen. Der Unterschied zwischen beiden Ansätzen entsteht dadurch, dass die Elemente "Vertrag" und "Argumentation" in beiden Ansätzen sehr unterschiedliche Rollen einnehmen.

Verträge sind nach meinem Verständnis nicht grundlegend für die Bestimmung von Normen. Ich nehme auch keinen stillschweigenden Vertrag darüber an, keinen Zwang auszuüben.

Verträge spielen eine Rolle vor allem in den "moralfreien" Bereichen, wo die Individuen von der Rücksichtnahme auf fremde Interessen freigestellt sind. Dies sind die Eigentumssphären. (Die Rechtfertigung derartiger "moralfreier" Bereiche wäre noch zu diskutieren.)

Eigentümer dürfen in Bezug auf ihr Eigentum beliebig handeln, sie sind niemandem Rechenschaft darüber schuldig. Sie sind auch frei, mit anderen Eigentümern Verträge auszuhandeln, bei denen die Eigentümer sich gegenseitig versprechen, in bestimmter Weise zu handeln (Kaufverträge, Arbeitsverträge, Werkverträge, Eheverträge usw.).  

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Zu einem vertraglichen Konsens kommt es dann, wenn jede Partei die Verwirklichung des Vertragsinhaltes gegenüber dem Nichtabschluss des Vertrages, also der Beibehaltung des Status quo, vorzieht.

Je eher eine Partei auf den Abschluss des Vertrages verzichten kann, desto stärker ist ihre Verhandlungsposition. Umgekehrt hat eine Partei umso weniger "bargaining power" oder Verhandlungsmacht, je mehr sie auf den Vertragsabschluss angewiesen ist.

Wenn A z. B. das Holz des Baumes im Besitz von B braucht, um im Winter nicht zu erfrieren, so kann B ihm weitgehende Zugeständnisse abringen.

Die Zustimmung zum Vertrag ist zwar freiwillig aber u. U. diktiert von der Notlage, in der sich eine Partei befindet.

Insofern muss ein vertraglicher Konsens nicht frei von Zwang sein – allerdings ist dies der "stumme Zwang der Verhältnisse".

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Die von Dir vertretene soziale Ordnung beruht auf zwei normsetzenden Institutionen: dem individuellen Eigentum und der Vertragsfreiheit dieser Eigentümer. "Konsens" ist bei Dir deshalb die freie Übereinkunft der Eigentümer.

Ich will diese Eigentum-Vertrags-Ordnung noch etwas näher ausführen, damit wir wissen, worüber wir streiten.

Eigentumsrechte legen Bereiche fest, in denen die Entscheidung ganz den jeweiligen Eigentümern überlassen bleibt. Die Entscheidungen des Eigentümers sind allgemein anerkannte Normen: Niemand darf diese Entscheidungen behindern, weil er damit die Normsetzungsbefugnis des Eigentümers in Bezug auf dessen Eigentum, also seine Eigentumsrechte, verletzen würde.

Wenn der Eigentümer eines Grundstücks auf einem Schild das Verbot bekannt gibt: "Privateigentum. Betreten verboten! Der Eigentümer", so ist dies eine von allen zu befolgende Norm. Der Eigentümer ist also berechtigt, im Rahmen seiner Eigentumsrechte seine Interessen ohne Rücksicht auf andere zu verfolgen. Insofern ist das unbeschränkte Eigentum ein moralfreier Raum.

Wenn ein anderes Individuum B etwas will, was die Eigentumsrechte von A berührt, so kann B seinen Willen nur verwirklichen, wenn A dem zustimmt. Diese Zustimmung kann A von einer Gegenleistung abhängig machen, die B ihm zu erbringen hat. A kann z. B. das Angebot machen: "Wenn Du mein Grundstück betreten willst, dann musst Du mir 3 Äpfel geben."

Wenn A als Eigentümer des Grundstücks und B als Eigentümer von Äpfeln sich einig werden, dass für beide die Norm gilt: "B muss A 3 Äpfel geben und A muss B das Betreten des Grundstücks erlauben", so können sie diesen übereinstimmenden Willen zu einer von beiden zu befolgenden Norm machen, indem sie sich selber verpflichten, diese Norm zu befolgen. Das dazu verwendete Verfahren ist das Versprechen, die ausdrückliche Erklärung: "Ich verspreche, meinen Teil an dem gemeinsam Gewollten zu tun."

Durch wechselseitiges Versprechen kommt es also zu einer vertraglichen Übereinkunft, die beinhaltet, welche Leistungen A und B sich gegenseitig schulden. Der Vertrag beinhaltet also einen Austausch von Diensten oder Gütern jeglicher Art zwischen Eigentümern.

Nach dieser Darstellung nun meine Fragen an Dich.

Gibt es für Dich unabhängig von dieser Eigentum-Vertrags-Ordnung noch so etwas wie einen moralischen Standpunkt, von dem aus diese Ordnung und ihre Resultate bewertet werden können? Oder sind die Entscheidungen, die das System hervorbringt, selber der letzte normative Maßstab weil faktischer vertraglicher Konsens?

Angenommen, A ist Eigentümer eines Stücks Land, über das der einzige Weg weit und breit über ein Gebirge führt. A verlangt deshalb einen hohen Wegezoll von denen, die den Pass benutzen  wollen. Kann eine solche Monopolstellung für Dich zu "ungerechten", nicht akzeptablen Verhältnissen führen?

Angenommen, es handelt sich bei den Eigentümern um Küstenbewohner, die von Sturmfluten bedroht sind. Es sind deshalb starke Deiche notwendig. Kein Problem: die Eigentümer schließen sich zu einem Deichschutzverband zusammen, der mithilfe der Mitgliederbeiträge den Deich baut und finanziert.

Nun ist der Deich aber ein kollektives Gut, das allen zu Gute kommt, die hinter dem Deich wohnen. Es ist deshalb für einzelne Eigentümer vorteilhaft, die andern den Deich bauen und finanzieren zu lassen. Solche Trittbrettfahrer, die den Nutzen des Deiches mitnehmen aber sich nicht an dessen Kosten beteiligen, könnte das Eigentümer-Vertrags-System nicht verhindern. Und da es keinen moralischen Standpunkt außerhalb des Systems geben kann, kann man diesen Trittbrettfahrern noch nicht einmal einen Vorwurf machen.

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Nach Monopol und kollektiven Gütern ein weiteres Problem einer Eigentum-Vertrags-Ordnung, also einer Marktgesellschaft pur.

Es stellt sich die Frage, ob es für die Aneignung durch Privateigentümer Grenzen geben soll. Um es konkret zu machen: Darf man nur seine Güter und Dienste verkaufe, oder darf man auch sich selber oder gar andere Menschen an Privateigentümer verkaufen? Ist Sklavenhaltung verboten?

Die Kommunisten waren der Ansicht, dass es gerechter ist, wenn es kein Privateigentum an Grund und Boden oder an Produktionsmitteln wie Fabriken, Maschinen etc. gibt.

Man kann auch der Meinung sein, dass es einer Gesellschaft nicht gut tut, wenn Rundfunk- und Fernsehsender, Zeitungen, Schulen und Universitäten Privatleuten gehören.

Auch ist zu fragen, ob bewaffnete Söldnertruppen, Sportvereine oder Erfindungen Privatleuten gehören sollten.

Muss all dies den Entscheidungen der jeweiligen Eigentümer überlassen bleiben oder kann man über solche Fragen pro und contra argumentieren?

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Hier noch zwei weitere Probleme der Marktgesellschaft pur:

In einer unbeschränkten Eigentumsordnung besteht die Tendenz zur ungleichen Verteilung des Eigentums auf die Individuen. Jemand, der wenig Eigentum besitzt – etwa nur seine persönlichen Fähigkeiten zu arbeiten – kann nicht so viel sparen wie jemand, der bereits ein großes Vermögen besitzt und daraus ein großes Einkommen bezieht. Über die Generationen hinweg kann sich diese Ungleichheit der Vermögen noch vervielfachen. Hältst Du eine Korrektur dieser Tendenz für überflüssig?

2. Eigentum und Vertrag gehören zu den normsetzenden Verfahren, bei denen die Individuen ihre Interessen selbst bestimmen und entsprechend auf dem Markt agieren. Nun ist bekannt, dass man hinsichtlich der eigenen Interessenlage in einer bestimmten Situation zu verschiedenen Zeitpunkten auch verschiedene Meinungen haben kann: Man kann eine frühere Entscheidung bitter bereuen, aber nur mit Zustimmung des jeweiligen Vertragspartners korrigieren. Hältst Du eine eine darauf bezogene Bildungs- und Medienpolitik für notwendig? Wie kann eine reine Marktgesellschaft dies erreichen?

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Für Dich ist der vertragliche Konsens (im Sinne einer faktischen Vereinbarung zwischen Individuen) die alleinige Quelle aller Verpflichtungen. In einer so geordneten Gesellschaft ist es natürlich von allergrößter Bedeutung zu wissen, welche Vereinbarungen zwischen welchen Individuen mit welchem Inhalt getroffen wurden.

Es sollte also Methoden geben, um dies möglichst zweifelsfrei festzustellen zu können. Was geschieht, wenn A meint, er habe mit B eine bestimmte Vereinbarung v getroffen, B dies aber bestreitet? Dann muss A, bevor er gegen B vorgeht, beweisen dass v vereinbart wurde.

Wie soll aber A das nach Jahren beweisen, wenn die Vereinbarung nicht schriftlich festgehalten wurde, wie Du es für möglich hältst? Wer entscheidet, ob sein Beweisversuch gelungen ist?

Wenn 100 Individuen untereinander je 10 Vereinbarungen treffen, hat jedes Individuum bereits 1000 Vereinbarungen im Kopf zu behalten, die alle voneinander verschieden sein können. Ein Wunder, wenn es da keine Meinungsverschiedenheiten gäbe, noch dazu, wo unterschiedliche Interessen bestehen.

Im Laufe der Jahre sehe ich mehr Dissens als Konsens in dieser Gesellschaft.

Die Möglichkeit des Dissens entsteht bereits durch mehrdeutige und unscharfe Begriffe. B hatte sich zur Lieferung von 5 Kilo Äpfeln verpflichtet, aber kann man wurmstichiges Fallobst als "Äpfel" bezeichnen?

Der 12-jährige Hans hat sich im Tausch gegen eine Playstation verpflichtet, für Herrn Müller 3 Jahre lang die Tageszeitung zu holen (Problem der Unmündigkeit)

Der Schwerstbehinderte Karl hat keine Leistung anzubieten und kann keine Vereinbarungen treffen (Problem der von Geburt an Behinderten).

Meine Prognose für das Funktionieren der Vertragsgesellschaft pur ist eher düster.

Dein Modell ist in meinen Begriffen beschrieben ein Modell, in dem die Ebene inhaltlicher moralischer Argumentation ganz fehlt, in dem Normen nur verfahrensmäßig begründet werden (als Resultate von Verträgen) und wo es nur ein Verfahren der Normsetzung, den vertraglichen Konsens, gibt.

Eine Kritik mit Bezug auf die zu erwartenden chaotischen sozialen Zustände ist Dir durch Deinen Ansatz verwehrt. Eine solche moralische Kritik könnte ja nur "unverbindliche subjektive Willkür" sein, da es keinen vom Vertragsschluss unabhängigen Standpunkt gibt.

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Rechte von Individuen entstehen im reinen Vertragssystem nur durch Anerkennung von Seiten des Vertragspartners. Sie gelten jeweils auch nur für die jeweiligen Vertragspartner.

Angenommen Individuum A vereinbart mit Individuum B einen Grundstückstausch. A gibt B die Grünwiese und B gibt A den Sandacker. Diese Änderung der Eigentumsrechte gilt nur für die Vertragspartner A und B. Für alle anderen Individuen ist A also damit noch nicht Eigentümer des Sandackers. Diese haben dem Tausch ja nicht zugestimmt und durch Vereinbarungen Dritter können für sie nach der Theorie keine Verpflichtungen entstehen.

Nehmen wir eine Bevölkerung von 80 Millionen Einwohnern an. Damit A auch gegenüber den 79.999.998 übrigen Individuen als Eigentümer des Sandackers auftreten kann, müsste er noch 79.999.998 weitere vertragliche Vereinbarungen schließen ... ???

Das kann wohl nicht sein. Wo interpretiere ich Deine Vertragsgesellschaft falsch?

In einer für alle 80 Millionen verbindlich geltenden (staatlichen) Ordnung, die Regelungen enthält, wie Eigentum an Grundstücken erworben werden kann, wie es auf andere übertragen werden kann und wie man sich als Eigentümer ausweisen kann, besteht dies Problem nicht.


 

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
  
Versprechen als Verfahren zur Setzung verbindlicher Normen *** (12 K)
   Konsens durch Vertrag und Konsens durch Argumentation *** (17 K)

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Letzte Bearbeitung 07.12.2009 / Eberhard Wesche

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