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Zeit und Raum

 

Vorläufige Gedanken

Dass die Welt räumlich und zeitlich geordnet ist, ergibt sich aus meinen Wahrnehmungen und deren Verarbeitung im Gehirn.


Die räumliche Wahrnehmung

Ich habe zwei Augen, die sich an verschiedenen Stellen meines Gesichtes befinden und die deshalb zwei unterschiedliche Bilder meiner Umwelt an mein Gehirn senden. Das Gehirn verarbeitet die beiden Bilder zu einem räumlichen Bild. Dadurch ist mir räumliches Sehen möglich.

Ich öffne die Augen und bemerke in meinem Blickfeld Ungleiches: An einer Stelle ist es hell, an einer anderen Stelle ist es dunkler. Mit dieser Wahrnehmung eines Unterschieds zwischen zwei Orten ("Hier ist es jetzt dunkel, dort ist es jetzt nicht dunkel") ist die Grundlage für eine räumliche Wahrnehmung und den Aufbau eines räumlich geordneten Weltbildes gelegt.

Angenommen, ich öffne meine Augen und ich sehe nichts als ein gleichförmiges Grau. Dann kann ich aus dieser Wahrnehmung keinerlei Räumlichkeit ableiten.

Da ich aber z. B. unterschiedliche helle Stellen sehe, kann ich den Ort der einen (helleren) Stelle von dem Ort der anderen (dunkleren) Stelle unterscheiden und entnehme meiner (optischen) Wahrnehmung eine räumliche Welt, in der es Orte gibt ("hier" und "dort", "vor" und "hinter", "über" und "unter", "links daneben" und "rechts daneben"), Richtungen ("von" und "nach") und Entfernungen ("nah" und "fern").

Das Räumliche, das sich aus dem optischen Eindruck einer hellen und einer dunklen Stelle ergibt, ist das Nebeneinander von Unterschiedlichem. Wenn Helles und Dunkles nicht nebeneinander, also an verschiedenen Orten liegen würden, könnte ich sie nicht unterscheiden.

Dass die Welt räumlich geordnet ist, ergibt sich nicht nur aus der optischen Wahrnehmung sondern auch aus der Wahrnehmung mittels anderer Sinnesorgane. Ich höre z. B. räumlich mit meinen zwei Ohren. Ich kann hören, aus welcher Richtung das Geräusch kommt (bei welcher Kopfdrehung ist das Geräusch am lautesten?), und ich kann hören, wie weit die Geräuschquelle von mir entfernt ist (z. B. am Anteil der hohen und tiefen Frequenzen). Ich kann die schmerzende Stelle in meinem Körper lokalisieren (z. B. Schmerzen im rechten Schultergelenk). Ich kann mittels meines Gleichgewichtssinns "oben" und "unten" unterscheiden u.a.m..


Die zeitliche Wahrnehmung

Ich halte die Augen weiterhin geöffnet und bemerke Ungleiches: Dort, wo es dunkel war, ist es jetzt nicht mehr dunkel. Mit dieser Wahrnehmung eines Unterschieds zwischen zwei Zeitpunkten ("Erst ist es hier dunkel, dann ist es hier nicht mehr dunkel") ist die Grundlage für eine zeitlich geordnete Wahrnehmung und den Aufbau eines zeitlich geordneten Weltbildes gelegt.

Wenn ich meine Augen öffne und sehe nur ein und dasselbe unveränderliche Bild, dann kann ich aus dieser Wahrnehmung keinerlei Zeitlichkeit ableiten (obwohl ich ein Erinnerungsvermögen habe, in dem die Bewusstseininhalte mit ihrer zeitlichen Abfolge geordnet abgelegt werden, so dass mir grundsätzlich der Aufbau eines zeitlich geordneten Weltbildes möglicht ist.)

Wenn ich aber z.B. sehe, dass sich etwas an dem Bild verändert, kann ich den Zeitpunkt des ursprünglichen Bildes von dem Zeitpunkt des veränderten Bildes unterscheiden und entnehme meiner (optischen) Wahrnehmung eine zeitliche Welt, in der es mehrere Zeitpunkte gibt ("früher" und "jetzt, "vorher" und "nachher", "lange vorher" und "kurz vorher"). Das Zeitliche, das sich aus dem optischen Eindruck einer Veränderung ergibt, ist das Nacheinander von Unterschiedlichem. 

Die Wahrnehmungen der verschiedenen Sinnesorgane erfolgen koordiniert. Ich spüre dann den Schmerz, wenn die Nadel in meinen Arm sticht. Ich höre dann den Lärm des Motorrads, wenn es an mir vorbeifährt. Ich höre den Donner, nachdem es geblitzt hat. So bauen sich mein Bild der Welt unter Mitwirkung der verschiedenen Sinnesorgane auf.

Die raumzeitliche Ordnung der Welt wird intersubjektiv übereinstimmend wahrgenommen. Wenn der Wettkampfleiter zu den Wettläufern sagt: "Ihr dürft erst dann loslaufen, wenn ihr den Schuss aus meiner Pistole hört!", und wenn sich die Läufer an diese Anweisung halten, so starten die Läufer ungefähr gleichzeitig. Wenn man jedoch sehr genau messen kann, so ist keine Gleichgzeitigkeit gegeben, denn die Entfernung zwischen der Pistole und den Ohren der Läufer ist unterschiedlich.

(Für Systeme, die sich mit annähernder Lichtgeschwindigkeit fortbewegen, gelten diese Bestimmungen u. U. nicht.)


Wird die raumzeitliche Strukturierung der Welt erst durch unser menschliches Bewusstsein erzeugt, oder kann man sagen, dass es die raumzeitliche Strukturierung der Welt unabhängig von irgendeinem bewusst erkennenden Subjekt gibt?

Es erscheint gewöhnlich als selbstverständlich, dass die Welt raumzeitlich strukturiert ist, auch unabhängig davon, ob dies irgendeinem Menschen bewusst ist. Ein Beispiel: Nach unseren heutigen Erkenntnissen gibt es auf der Erde seit einigen Millionen Jahren Menschen. Die Erde gibt es jedoch bereits seit ca. fünf 5 Milliarden Jahren. Das bedeutet: Schon bevor es Menschen gab, umrundete die Erde die Sonne. Dies Weltbild ergibt sich aus unseren indirekten Wahrnehmungen. Dabei schließen wir -  ausgehend von unseren gegenwärtigen Wahrnehmungen - über Indizien und empirische Regelmäßigkeiten auf die vergangenen Sachverhalte.


Die Geometrie als Modelltheorie des Raumes

Als Beleg für die aller Wahrnehmung zugrunde liegende räumliche Struktur, die wir nicht aus der Erfahrung gewinnen, führt Kant die euklidische Geometrie an.

Bei den Elementen und Figuren der der euklidischen Geometrie, wie z. B. dem Dreieck, handelt es sich um gedankliche Konstruktionen. Die mengentheoretische Formulierung der Geometrie benutzt als einen Grundbegriff den "Punkt". Dieser ausdehnungslose geometrische Ort kommt in der Wirklichkeit nicht vor. Entsprechendes gilt für die "Gerade".

Diese geometrischen Gebilde sind räumliche Modellkonstruktionen, die es als solche nicht real gibt. Bezogen auf eine bestimmte Genauigkeit lassen sich jedoch reale Sachverhalte, wie z. B. eine Kiste, durch das Modell der euklidischen Geometrie interpretieren. Dann werden die Kanten der Kiste zu Strecken und die Seitenteile zu Rechtecken. 

Die mit einem spitzen Bleistift und einem Lineal auf einem Blatt Papier gezogenen schmalen, geraden Linien lassen sich für die Zwecke des Alltags als mehrere "Geraden" im Sinne des geometrischen Modells interpretieren. Die Stellen, an denen sich zwei Bleistiftstriche überschneiden, lassen sich als "Punkte" im Sinne des geometrischen Modells interpretieren, sofern eine Genauigkeit von 1 mm genügt. Wenn diese empirische Interpretation der theoretischen Begriffe möglich ist, gelten die Gesetze der euklidischen Geometrie auch für derartige Bleistiftzeichnungen auf Papier. 

Die Bleistiftstriche können allerdings nicht mehr als Elemente der euklidischen Geometrie interpretiert werden, wenn eine größere Genauigkeit erforderlich ist. Wenn ich die Zeichnungen tausendfach vergrößere, dann wird aus einer schmalen und geraden Bleistiftlinie ein dicker, ungleichmäßiger Balken, den ich nicht als eine "Gerade" im Sinne des theoretischen Modells interpretieren kann. Wenn ich es trotzdem versuche, so kann es ohne weiteres vorkommen, dass die Winkelsumme eines gezeichnetes Dreiecks bei empirischer Messung 362 Grad ergibt. Das heißt: das gezeichnete Dreieck ist kein Dreieck im Sinne des euklidischen Modells.


Kann die Zeit auch rückwärts laufen?

Warum verläuft die Zeit immer in eine Richtung? Warum kann die Zeit nicht auch einmal rückwärts laufen, so wie bei einer Filmrolle, die man rückwärts abspielt?

Das würde bedeuten, dass alle Zustände der Welt in umgekehrter Reihenfolge verwirklicht werden. Das würde z.B. bedeuten, dass ich eine Erinnerung habe an etwas, das noch gar nicht passiert ist. Das ist unsinnig.

Man kann sich in der Fantasie vorstellen, die Zeit würde  bis zu einem bestimmten Zeitpunkt "zurückgedreht" und würde von dort aus noch einmal neu anfangen. Wenn man dann anders handeln würde, dann würde die Welt einen anderen Verlauf nehmen als beim ersten Mal. Aber der Konjunktiv zeigt, dass es sich dabei nur um eine Vorstellung handelt.

Wenn man sagt: "Die Zeit läuft unbarmherzig weiter", so ist das eine ungenaue Formulierung. Es sind die Veränderungen der Dinge, die unerbittlich ablaufen und die man nicht einfach anhalten kann wie eine Uhr.

Der Zeiger der Uhr rückt weiter. Aber auch wenn alle Uhren um eine Stunde zurückgestellt würden, würde sich am realen Ablauf nichts ändern. Wir hätten nur eine Umbenennung des Zeitpunktes vorgenommen. Niemand würde dadurch eine Stunde jünger und nichts würde dadurch ungeschehen gemacht. Räumlichkeit und die Zeitlichkeit haben einen engen Bezug zum Begriff der Wirklichkeit. Nur das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort direkt oder indirekt wahrgenommen werden kann, kann als existent gelten.

Wenn sich alles langsamer verändert, gibt es kein unabhängiges absolutes Kriterium mehr, anhand dessen eine Verlangsamung festgestellt werden könnte.

Deshalb ist auch die Frage: "Kann die Zeit stillstehen?" sinnlos. Denn wenn die Zeit völlig still stehen würde, könnten wir das nicht bemerken. Um den Stillstand festzustellen, benötigen wir etwas, das nicht still steht sondern sich verändert. Diesen Maßstab kann es nicht geben, dennn das wäre ja wieder eine Uhr, die geht. Wenn die Zeit stillsteht, dann dauert eine Ewigkeit genauso lang wie eine Sekunde.


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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Kants Konzeption synthetischer Urteile a priori *** (42 K)

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Letzte Bearbeitung 28.11.2012 / Eberhard Wesche

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