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Norm und Möglichkeit

 

Normative Fragen sind Fragen danach, wie die Welt beschaffen sein soll, wie Menschen handeln sollen. Diese Fragen haben nur dann Sinn, wenn es verschiedene Möglichkeiten gibt, zwischen denen man entscheiden kann. Etwas zu fordern, was nicht realisierbar ist oder was sowieso eintritt, ist sinnlos bzw. überflüssig.

Normen, die beinhalten, dass etwas sein soll, treffen eine Auswahl aus einem Bereich des Möglichen. Dementsprechend wird in der Entscheidungstheorie das normative Problem auf die Formulierung gebracht: "Welche der möglichen Alternativen soll realisiert werden?"

Dabei werden "Alternativen" gewöhnlich nicht nur als statische Zustände aufgefasst, sondern als alternative Verläufe der zukünftigen Entwicklung begriffen, d. h. dass die Alternativen einschließlich der mit ihnen verbundenen Konsequenzen zur Entscheidung stehen. Dies Prinzip der Berücksichtigung der Konsequenzen, das vor allem durch Bentham  betont wurde, und sich ausgehend vom klassischen Utilitarismus bis in die moderne Entscheidungstheorie hinein erhalten hat, wirft für eine normative Theorie verschiedene Probleme auf.

Ein Problem, dass hier jedoch nicht weiterverfolgt werden soll, besteht darin, dass die zukünftigen Konsequenzen von Handlungen praktisch unübersehbar sind bzw. nur mit erheblichen Informationskosten erkannt werden können. Hier bedarf es offensichtlich einer Beschränkung - sei es des Zeithorizonts oder der Wertgesichtspunkte - um die Alternativen formulierbar zu machen.

Neben diesen, eher technischen Problemen, die auch bei jeder individuellen Entscheidung auftreten, ergeben sich jedoch aus dem Prinzip der Berücksichtigung der Konsequenzen auch noch spezifisch ethische Probleme. Diese Probleme ergeben sich aus dem Umstand, dass sich im sozialen Bereich Konsequenzen nicht nur als naturgegebene Abläufe ergeben, sondern auch durch das Handeln von Menschen entstehen.

In der Theorie der individuellen Entscheidung muss der betreffende Akteur die wahrscheinlich zu erwartenden Reaktionen anderer Subjekte berücksichtigen. Diese Reaktionen und die dadurch hervorgerufenen Konsequenzen sind für ihn Gegebenheiten, von denen er auszugehen hat, insofern er sie nicht beeinflussen kann.

Die Situation verändert sich jedoch dort, wo es - wie in der Ethik - um die richtigen kollektiven Entscheidungen geht. Hier können die Reaktionen von Individuen ja nicht einfach als gegebene Konsequenzen hingenommen werden, wenn diese Individuen auch anders handeln könnten.

Ein extremes Beispiel soll dies Problem verdeutlichen. Angenommen zwei Männer haben eine Bank überfallen. Einer der beiden konnte festgenommen werden und soll verurteilt werden. Doch der andere hat mehrere Menschen als Geiseln in seine Gewalt gebracht und droht, diese zu erschießen, wenn sein Komplize nicht freigelassen wird. Vor die Entscheidung gestellt, welche der beiden Alternativen (1. "verurteilen" oder 2. "freilassen des Bankräubers" ) vom Gesichtspunkt des Gesamtinteresses her besser ist, würde man wahrscheinlich zu dem Ergebnis kommen, dass der Bankräuber freigelassen werden sollte. Aber zu diesem Ergebnis kommt es nur durch die Konsequenz der Geiselerschießung, die als gegeben hingenommen wird.

Natürlich ist die Geiselerschießung keine notwendige Konsequenz der Verurteilung des Bankräuber es, und es bestünde ohne weiteres die Möglichkeit, dass der eine Bankräuber verurteilt wird und zugleich die Geiseln am Leben bleiben. Der andere Bankräuber müsste dies nur wollen.

Der Bereich des Möglichen ist also unterschiedlich groß, je nach dem, welche menschlichen Reaktionen man entweder als gegeben hinnimmt oder aber noch zur Disposition stellt. Eine Klärung der Begriffe "Möglichkeit" und "Konsequenz" ist deshalb methodisch von großer Bedeutung.

Wie das obige Beispiel bereits deutlich machte, hängt der Begriff der Möglichkeit zusammen mit den Begriff der Macht. Machtausübung kann verstanden werden als Einschränkung des Bereichs möglicher Alternativen für andere. Deshalb wird in diesem Zusammenhang auch eine Klärung und Präzisierung des Machtbegriffs erforderlich sein, der für die Sozialwissenschaften eine wichtige Rolle spielt. Generell wirft die Frage nach dem Bereich möglicher Handlungsverläufe und Entwicklungen die Frage nach dem Menschenbild auf, das den normativen Überlegungen zugrunde liegt. Insbesondere ist die Frage zu klären, welche Fähigkeiten und Motivationen in Bezug auf die Einhaltung von Normen bei den Individuen vorausgesetzt werden können.

Von welcher Bedeutung unterschiedliche Interpretationen des Möglichkeitsbereichs für die normative Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse sind, kann kaum überschätzt werden. So wird zum Beispiel das kommunistische Ideal einer Verteilung der Konsumgüter nach den Bedürfnissen und einer Verteilung der Arbeit nach den Fähigkeiten der Individuen vor allem mit dem Argument kritisiert, dass die Menschen langfristig eben nur dann gute Arbeitsleistungen erbringen, wenn Sie dafür mit entsprechend großen Konsummöglichkeiten belohnt werden.


Der Bereich des Menschenmöglichen

Obwohl er sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft häufig Verwendung findet, wirft der Begriff der Möglichkeit bei dem Versuch der Präzisierung doch erhebliche Probleme auf. Hier soll die Frage: "Was ist möglich?" geklärt werden, um den Bereich abzugrenzen, innerhalb dessen man überhaupt sinnvoll etwas wollen bzw. fordern kann. Dadurch ergibt sich, dass hier nur eine spezielle Bedeutung des Möglichen, nämlich im Sinne des "gezielt Realisierbaren" relevant ist. Ein Zustand muss durch gezieltes menschliches Handeln verwirklicht werden können, um sinnvoll gefordert werden zu können, da Normen an Menschen adressiert sind und deren Handeln anleiten sollen.

Neben dem engeren Begriff des Möglichen als all das, was von dem betreffenden Individuum ihm gezielt verwirklicht werden kann, gibt es noch den weiteren Begriff des Möglichen als dasjenige, dessen Eintreten nicht ausgeschlossen werden kann. So ist es zum Beispiel möglich, dass man auch mit einem ungefälschten Würfel dreimal hintereinander eine "6" würfelt - wenn dies auch sehr unwahrscheinlich ist - aber trotzdem ist es sinnlos dies zu fordern, denn niemand kann dies gezielt realisieren. (Sinnvoll wäre höchstens die Forderung: "Würfele solange, bis du dreimal hintereinander eine '6' gewürfelt hast! ", denn mit bei unbegrenztem Zeitaufwand scheint das Würfeln von drei "Sechsen" realisierbar.)

Ebenso ist es möglich, dass der nächste Sommer trocken, sonnig und warm wird, aber dies kann sinnvoller Weise nicht Inhalt einer Norm sein, weil kein Mensch dies gezielt verwirklichen kann. Es ist nicht "möglich" im Sinne von nicht "gezielt realisierbar". Damit konzentriert sich die Frage nach dem Möglichen auf das, was durch Menschen gezielt realisierbar ist.

Wie kann man bestimmen, ob das, was eine Norm vorschreibt, für den Adressaten dieser Norm auch realisierbar ist? Welche verschiedenen Faktoren können die Erfüllung der Norm verhindern? Inwiefern kann es einem bestimmten Menschen unmöglich sein, eine bestimmte Norm zu erfüllen?

Relativ einfach liegt der Fall, wenn eine Norm etwas logisch Unmögliches fordert. Dies ist immer dann der Fall, wenn die Norm einen logischen Widerspruch enthält. Logisch unmöglich wäre etwa wie Erfüllung der zweiteiligen Norm: "1. Du sollst nicht töten! 2. Erschieße den zum Tode verurteilten Deserteur!" Ebenso wäre die Norm: "Nenne eine Primzahl, die durch 2 und durch 3 teilbar ist!" logisch unmöglich, weil eine solche Primzahl "ein Widerspruch in sich selbst" per Definition nicht existieren kann.

Ebenso klar liegt der Fall bei Normen, welche die Aufhebung eines Naturgesetzes verlangen, wie z. B. die Norm: "Baue ein Perpetuum mobile! " Denn dies würde den Lehrsätzen der Thermodynamik von der Erhaltung der Energie widersprechen.

Unmöglich wäre auch die Erfüllung einer Norm, die etwas vorschreibt, was nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens und der Technik nicht realisierbar ist. So ist die Erfüllung der Norm: "Sei um 12:00 Uhr mitteleuropäischer Zeit in Paris und fünf Minuten später um 12:05 Uhr mitteleuropäischer Zeit in New York!" nach dem heutigen Stand der Beförderungstechnik technisch nicht möglich. Allerdings ist es möglich (d. h. es kann nicht ausgeschlossen werden), dass die Einhaltung dieser Norm zukünftig einmal möglich (realisierbar) sein wird. Ob und wann der Wechsel von Paris nach New York in fünf Minuten realisierbar sein wird, hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie viel Mittel und Anstrengung man in ein solches Projekt investiert.

Ob etwas realisierbar wird, hängt also unter Umständen davon ab, ob man das will. Die Grenzen des technisch Möglichen können deshalb - zumindest auf längere Sicht - nicht als gegeben angesehen werden, weil das (heute noch) Unmögliche möglich gemacht werden kann.

Während die bisherigen Arten von Unmöglichkeit für jedermann galten, gibt es auch Normen, deren Erfüllung zwar im Prinzip von Menschen realisierbar ist, die jedoch eine bestimmte Ausstattung mit sachlichen Mitteln bzw. persönlichen Fähigkeiten erfordern. Ob z. B. die Erfüllung der Norm: "Montiere dies Regal innerhalb einer Stunde an diese Wand!" für den Adressaten unmöglich ist oder nicht, hängt davon ab, welche Mitteln bzw. Werkzeuge er zur Verfügung hat (Elektrobohrer oder nur Handbohrer) und welche Fähigkeiten (Kraft, Geschicklichkeit, Übung) er in der Handhabung dieser Werkzeuge besitzt. Für das eine Individuen mag die Erfüllung dieser Aufgabe möglich sein, für das andere nicht, je nachdem welche sachlichen und persönlichen Mittel dem betreffenden Individuum zur Verfügung stehen.

Dabei können die verschiedenartigsten Voraussetzungen notwendig sein, um die Norm zu realisieren. Ich kann das Regal innerhalb einer Stunde montieren, wenn ich die nötigen Geräte und Werkzeuge habe, wenn die Wand nicht aus Beton ist, wenn mich niemand behindert, wenn sich dabei kein Unfall ereignet usw. usw. Das Fehlen von äußeren Hindernissen sowie die Verfügbarkeit der notwendigen sachlichen Mitteln sind offensichtlich wichtige Bedingungen für die Realisierung des durch die Norm gebotenen Zustandes.

Hinzukommen müssen die notwendigen Fähigkeiten des Individuums, zum Beispiel die Fähigkeit, Löcher der richtigen Größe und Tiefe mit der erforderlichen Schnelligkeit in die Wand zu bohren. Die Frage ist, wie man Fähigkeiten von Individuen feststellen kann. Wie lässt sich zum Beispiel entscheiden, ob ein Individuum die Fähigkeit besitzt, unter gegebenen äußeren Bedingungen eine Strecke von 100 Metern in weniger als 15 Sekunden zu laufen? Fähigkeiten kann man den Menschen nicht ansehen, denn es handelt sich hier nicht um beobachtbare Eigenschaften, sondern um so genannte "Dispositionen", ähnlich wie man auch dem Stück Zucker nicht ansehen kann, dass es wasserlöslich ist.

Über Dispositionsbegriffe und die Schwierigkeiten ihrer Definition gibt es in der Wissenschaftstheorie eine ausgedehnte Diskussion, die hier nicht dargestellt werden soll. (Siehe Carnap, Testability and Meaning, und Hempel in Sinnreich ...) "Von einem bestimmten Gegenstand zu sagen, er sei wasserlöslich, heißt nicht einfach, dass er sich immer auflöst, wenn er in Wasser getaucht wird, weil dies fälschlicherweise auf jeden wenn auch unlöslichen Gegenstand zuträfe, wenn es nur zufällig dessen Schicksal ist, niemals in Wasser getaucht zu werden. Das heißt vielmehr, dass er sich auflösen würde, wenn er in Wasser getaucht würde." (Auf die Schwierigkeiten solcher im Konjunktiv formulierten, also kontrafaktischen Bedingungssätze soll hier nicht näher eingegangen werden.)

Die Frage ist, was es bedeutet, wenn man jemandem die Fähigkeit zuspricht, 100 Metern in weniger als 15 Sekunden zu laufen. Über Fähigkeitsbegriffe und deren Bedeutung sind vor allem die Ausführung von Ryle aufschlussreich (vgl. insbesondere Ryle, Geist, S. 155ff.) Danach sind Aussagen über Fähigkeiten keine Berichte über Tatsachen, ähnlich wie auch empirische Gesetzes Aussagen keine Berichte über Tatsachen sind. "Es ist klar, dass solche Aussagen nicht Gesetze sind, denn sie erwähnen bestimmte Dinge oder Personen. Andererseits ähneln Sie aber Gesetzen, indem sie teilweise 'variabel' oder 'offen' sind .. Die Aussage, dass dieser Schläfer Französisch kann, heißt, dass er, wenn er z. B. auf Französisch angeredet wird oder wenn ihm eine französische Zeitung vorgelegt wird, sinngemäß auf Französisch antwortet, sinngemäß handelt oder richtig in seine eigene Sprache übersetzt." (S. 163f.) "Dispositionale Behauptungen ... berichten nicht von Ereignissen. Ihre Aufgabe ist jedoch innig mit dem Berichten von Ereignissen verknüpft, denn wenn sie wahr sind, dann werden sie von Berichten über Ereignisse bestätigt. 'Müller hat gerade auf Französisch mit mir telefoniert' erfüllt die Behauptung 'Müller kann Französisch' und jemand, der herausgefunden hat, dass Müller ausgezeichnet Französisch kann, braucht keine weitere Berechtigung, um ihm den Schluss aus der Tatsache, dass Müller ein französisches Telegramm gelesen hat, auf die Tatsache, dass er es verstanden hat, zu erlauben. " (164 f.) "Dispositionsaussagen gleichen Gesetzesaussagen darin, dass wir sie auf teilweise ähnliche Art verwenden. Sie finden ihre Anwendung und ihre Bestätigung in den Handlungen, Reaktionen und Zuständen des Gegenstandes, sie berechtigen uns, diese Handlungen, Reaktionen und Zustände vorherzusagen und auf sie zurück zu schließen oder sie zu erklären oder abzuändern." (S. 164)

Wright präzisiert den Begriff der Fähigkeit (ability) noch genauer, indem er zwischen zwei Arten von "Tun-können" unterscheidet: "Dass ich etwas tun kann, hat eine unterschiedliche Bedeutung, je nachdem, ob es sich auf eine individuelle Handlung oder auf eine Kategorie von Handlungen bezieht. Dass bei einer bestimmten Gelegenheit ein bestimmter Zustand - etwa dass eine Tür offen ist - eintritt als Folge einer Tätigkeit meinerseits, etwa bestimmter Bewegung meine Hände und Finger, ist eine notwendige und hinreichende Bedingung, um zu sagen, dass ich bei dieser Gelegenheit dieses tun oder diesen Zustand hervorbringen kann (konnte). Das einzige Kriterium des 'Tun-könnens' ist hier der Erfolg bestimmter Bemühungen. Für dieses Tun-können ist kein gewusst wie und keine begründete Gewähr des Erfolgs vor dem Versuch erforderlich.

Dies sind jedoch Anforderungen an jenes Tun-können, das sich auf Kategorien von Handlungen bezieht und das allein eine Fähigkeit (ability) ausmacht ... Ich werde das Tun-können, dass sich auf individuelle Handlung bezieht, das Tun-können-des-Erfolgs nennen und jenes, das sich auf Arten von Handlungen bezieht, das Tun-können-der-Fähigkeit. Das erste Tun-können ist immer relativ zu einer Gelegenheit des Handelns. Das zweite ist unabhängig von die Gelegenheiten des Handelns. Damit meine ich, dass es in diesem Sinne von Tun-können keinen Sinn macht zu sagen, dass wir etwas bei einer Gelegenheit tun können, jedoch nicht einer anderen - es sei denn, dass die andere Gelegenheit zu einem Abschnitt unserer Lebensgeschichte gehört.

((nicht beendet))

 

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
 

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Letzte Bearbeitung 17.09.05 / Eberhard Wesche

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