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Zur Nachvollziehbarkeit von Argumenten


Alle Erkenntnis, für die Allgemeingültigkeit beansprucht wird, muss sich daran messen lassen, ob sie auch allgemein nachvollziehbar begründet ist, wenn es mehr sein soll als ein Dogma.

Das heißt, dass sich über Behauptungen mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit im Prinzip ein Konsens herstellen lassen muss.

Dies gilt nicht nur für Behauptungen über die Beschaffenheit der Welt (wo eine intersubjektiv und intertemporal übereinstimmende Wahrnehmung den Konsens stiften kann) sondern auch für moralische Urteile.

Wenn man davon ausgeht, dass moralische Konflikte aus miteinander nicht zu vereinbarenden Interessen entstehen, so kann es zu einem zwangfreien, auf Argumente gestützten Konsens nur kommen, wenn jeder Beteiligte seine eigenen Interessen nicht wichtiger nimmt als die der Anderen, d. h. wenn jeder die vorhandenen Interessen unparteiisch und wohlwollend berücksichtigt und gegeneinander abwägt. 

Dies setzt voraus, dass man die Interessen der andern kennt und gewichtet. 

Dazu ist es erforderlich, dass man sich auch in die Lage aller andern hineinversetzt und dadurch gewissermaßen einen allgemeinen Standpunkt einnimmt.

Dies muss jeder tun, der beansprucht, etwas Allgemeingültiges zum Problem sagen zu können. Wenn er dazu nicht willens oder nicht in der Lage ist, dann kann er auch kein Argument zu der Frage beitragen, wie eine allgemeingültige Regelung des Konflikts aussehen könnte.

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In empirischen Fragen kann eine zwanglose Übereinstimmung letztlich durch die intersubjektiv übereinstimmende Wahrnehmung erreicht werden. Die Behauptung "Quecksilber erstarrt bei ca. -38 Grad Celsius" kann durch den Hinweis gestützt werden: "Beobachte das Thermometer und merke Dir den Wert, bei dem das Quecksilber beim Abkühlen fest wird."

Von den Beschreibungen der individuellen Wahrnehmungen (Dennis: "Ich sehe den Zeiger bei minus 38", Philipp: "Ich sehe den Zeiger auch bei minus 38" ) gelangt man zu der subjektfrei formulierten empirischen Aussage: "Der Zeiger steht bei minus 38 Grad Celsius, wenn das Quecksilber erstarrt".

Diese intersubjektive Übereinstimmung der Wahrnehmungen ist kein Zufall, denn jeder hat ja die Sprache zur Beschreibung seiner Wahrnehmungen von anderen gelernt, d. h. es besteht bereits eine intersubjektiv funktionierende Sprachgemeinschaft, auf der die Wissenschaft aufbauen kann.

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Man kann jedoch auch bei empirischen Fragen in Schwierigkeiten mit der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit kommen. Ich liege wohl nicht falsch, wenn ich sage, dass der überwiegende Teil meines Wissens über die Welt nicht auf eigener Wahrnehmung beruht. Ich war z. B. noch nie in Australien. Trotzdem halte ich zahllose Aussagen über Australien für wahr, z. B. dass es dort verschiedene Arten von Beuteltieren gibt. Ich vertraue in diesen Fragen also auf die Berichte, die andere Menschen von ihren Aufenthalten in Australien geben sowie auf die Inhalte audio-visueller Medien. Entsprechendes gilt für den überwiegenden Teil meines Weltbildes. Ist ein derartiges Vertrauen gleichzusetzen mit einer intersubjektiven Nachprüfbarkeit der Aussagen?

Noch schwieriger ist die intersubjektive Nachprüfbarkeit von Behauptungen über Vergangenes. Es kommt vor, dass es keine Augenzeugen für bestimmte Ereignisse gibt, z. B. für das Aussterben der Dinosaurier oder für die Himmelfahrt des Jesus von Nazareth. Was ist in diesem Fall eine einsichtige, intersubjektiv nachvollziehbare Begründung für ein behauptetes Ereignis?

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Wenn Ethik eine Wissenschaft sein soll, dann muss – wie in andern Wissenschaften auch – die methodische Regel gelten, dass nur Argumente zulässig sind, die intersubjektiv nachvollziehbar und akzeptabel sind. Diese methodische Regel ist in der bisherigen ethischen Diskussion nach meiner Kenntnis bisher nicht strikt eingehalten worden, und es ist bisher nicht systematisch die Frage gestellt worden: "Was sind die Bedingungen für die intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Konsensfähigkeit von Normen und deren Begründungen?"

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Moralische und rechtliche Normen werden benötigt, um soziale Konflikte (A tut etwas, was B nicht will) und deren schädliche Folgen (Streit, Kampf, Krieg, Unterdrückung) zu beschränken. 

Außerdem werden sie benötigt, um koordiniertes Handeln (Kooperation) und dessen Vorteile (Planungssicherheit in Bezug auf die Zukunft, Arbeitsteilung und Spezialisierung) zu fördern.

Es bestehen in Bezug auf die Behandlung sozialer Konflikte zwei grundlegende Möglichkeiten: Entweder, man trägt die Konflikte – notfalls gewaltsam – aus, oder man versucht, sich gewaltlos zu einigen und nach Regelungen des Handelns zu suchen, die für alle Beteiligten akzeptabel sind.

Wenn man sich dafür entscheidet, einen allgemeinen Konsens zu suchen, dann verzichtet man auf jede Form des Zwanges bei der Bestimmung der anzuwendenden Normen, man hat als Mittel der Auseinandersetzung nur Argumente. 

Wenn man so will, ist der einzige Zwang der Zwang zum Konsens. Ziel ist die Bestimmung moralischer und rechtlicher Normen, deren faktische Geltung "vernünftig", d. h. durch einsichtige Argumente begründet werden kann. 

Ähnlich, wie bei empirischen Fragen entscheidend ist, was alle übereinstimmend wahrnehmen können, so ist bei normativen Fragen das entscheidend, was alle gemeinsam wollen können, (ob man es nun "volonté générale", "Gemeinwohl" oder "Gesamtinteresse" nennt).

Es ist ohne weiteres möglich, sich gegen die Suche nach einem begründeten Konsens zu entscheiden. Aber derjenige, der dies macht, verliert damit gleichzeitig die Möglichkeit, in irgendeiner Weise in Bezug auf Normen des Handelns "recht" zu haben, wenn "Rechthaben" mehr sein soll als die Verkündung eines Dogmas, das geglaubt und befolgt werden soll. Er hat die Ebene der Argumentation von sich aus aufgekündigt, aber ohne einsichtige Argumente lassen sich Geltungsansprüche für Normen weder rechtfertigen noch kritisieren.

Wenn dieser Gedankengang richtig ist, dann haben wir mit dem angestrebten, allein auf einsichtigen Argumenten beruhenden Konsens ein – sicherlich noch präzisierungsbedürftiges - Kriterium, um gute von schlechten Argumenten zu unterscheiden und um richtige von falschen Antworten zu unterscheiden.

Der dargelegte Gedankengang ist für mich das entscheidende Fundament jeglicher rationalen, wissenschaftlichen Erkenntnis. Wer diesen Gedankengang nicht nachvollzogen und verstanden hat, kann alles spätere nur halb verstehen.

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Gesucht sind Normen des Zusammenlebens, die für alle Beteiligte aufgrund von Argumenten einsichtig gemacht werden können, die insofern auch als "vernünftig begründet" bezeichnet werden können.

Diejenigen, die nicht in der Lage sind, die Argumente zu verstehen, sind unmündig und scheiden aus der moralischen Diskussion aus.

Diejenigen, die nicht akzeptieren, dass nur intersubjektiv nachvollziehbare Argumente zulässig sind, stellen sich damit selber außerhalb der Diskussion. Da es Ihnen offensichtlich nicht um ein Zusammenleben nach allgemein einsichtigen Normen geht, definieren sie sich selber als Individuen, die sich die Verfolgung ihrer eigenen Interessen auf Kosten anderer vorbehalten.

Mit ihrer Weigerung, die Regeln der Intersubjektivität anzuerkennen, verzichten sie auch auf die Möglichkeit, ihrerseits eine Kritik zu üben, die mehr ist als eine subjektive Willensäußerung. Sie können zwar noch sagen: "Ich will nicht, dass du so handelst!" aber sie können dies nicht mehr tun mit dem Anspruch, dass es für den anderen eine irgendwie einsichtige Pflicht gäbe, die Handlung zu unterlassen. Sie können den andern zwar sanktionieren, sie können diese Sanktion jedoch nicht als berechtigte Strafe hinstellen.

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Aus einer Diskussion

Ich habe die Auffassung vertreten, dass eine Behauptung, für die Wahrheit im Sinne von allgemeiner Gültigkeit beansprucht wird, durch nachvollziehbare Argumente begründet sein muss, wenn es kein bloßes Dogma sein soll, das Glauben fordert.

Dagegen schreibst Du: "Die wirklichen Verhältnisse müssen doch der Maßstab sein, an denen sich richtig und falsch messen lassen müssen. Es ist völlig unerheblich, ob jemand das Newtonsche Gravitationsgesetz für einsichtig begründet hält oder nicht. Es funktioniert."

Meine Frage an Dich: Woher wissen wir denn, dass es funktioniert? Wie begründet denn der Physiker die Gravitationstheorie? Er sagt letztlich: "Miss doch selber nach und überzeuge Dich doch mit Deinen eigenen Augen davon, dass es so ist, wie die Theorie besagt!"  

Dadurch, dass wir übereinstimmend wahrnehmen, dass ein freier Fall - wie von der Theorie vorhergesagt - z. B. 12 Sekunden gedauert hat, ergibt sich die Möglichkeit eines zwanglosen, nachvollziehbaren Konsenses in empirischen Fragen.

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Eine Vielzahl methodischer Prinzipien zur Herstellung von Intersubjektivität wird bereits in den empirischen und logisch-mathematischen Wissenschaften bereitgestellt.

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:

        Argumente * (8 K)
 

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Letzte Bearbeitung 23.04.2007 / Eberhard Wesche

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