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Die ethische Theorie von Richard M. Hare


(Anmerkung: Die englischen Originaltexte wurden von mir übersetzt, wenn sinnvoll, wurden die englischen Begriffe mit angegeben)

Inhalt: 

   Teil I: Darstellung
1. Der sprachanalytische philosophische Hintergrund
2. Die handlungsleitende Funktion moralischer Urteile (Präskriptivität)
3. Die Universalisierbarkeit moralischer Urteile
4. Das Gläubiger-Beispiel
5. Zusammenfassung
    Teil II: Kritik
6. Die Kritik von Mackie
7. Exkurs: Vergleich mit der diskurstheoretischen Position
8. Die Prinzipien der Personunabhängigkeit, der Positionsunabhängigkeit sowie der neutralen und gleichgewichtigen Interessenberücksichtigung
9. Das Problem des Fanatikers: Die Berücksichtigung von Idealen und Werten



Textanfang

Teil I: Darstellung

 

1. Der sprachanalytische philosophische Hintergrund

Um die von Hare entwickelte ethische Theorie besser einschätzen zu können, ist es sinnvoll, eingangs das philosophische Umfeld zu skizzieren, innerhalb dessen Hare seine Theorie entwickelte. Hare war Professor für Moralphilosophie in Oxford. Seine wichtigsten Arbeiten sind: "The Language of Morals" (im Folgenden auch abgekürzt als 'LoM'), das zuerst 1952 erschien, und "Freedom and Reason" (im Folgenden auch abgekürzt als 'FaR'), das zuerst 1963 erschien. 1982 erschien schließlich: "Moral Thinking: Its Levels, Method and Point." Die Übersetzungen ins Deutsche sind vom Verfasser.)

Ich werde mich im Folgenden vor allem auf "Freedom and Reason" beziehen, in dem Hare versucht, die Resultate seiner Analyse der moralischen Sprache in eine Methode moralischer Argumentation umzusetzen.

In der Zeit nach dem Krieg dominierte im englischen Sprachraum der logische Positivismus, der moralischen Sätzen jeden Bezug zu Wahrheit und Falschheit absprach und die Bedeutung moralischer Äußerungen im Ausdruck gefühlsmäßiger Einstellungen bzw. in der Übertragung dieser Einstellungen auf andere sah. Ein prominenter Vertreter dieses 'Emotivismus' ist Ayer, für den die Ethik "ein Teilgebiet von Psychologie und Soziologie [ist]." (Ayer, Sprache - Wahrheit – Logik, S.149).

Hare teilte die Kritik der logischen Positivisten bzw. Emotivisten an den älteren Moralphilosophien, wenn diese versuchten, aus rein deskriptiven Aussagen moralische Urteile abzuleiten. Damit verletzten sie "Humes Gesetz", das den logischen Schluss vom Sein auf das Sollen als logischen Fehlschluss verbietet.

Jedoch war Hare im Gegensatz zu den Emotivisten der Meinung, dass man in moralischen Fragen sehr wohl rational argumentieren kann, und zwar nicht nur über die dabei auftretenden faktischen Behauptungen, sondern auch über die zugrunde liegenden moralischen Prinzipien selber. Deshalb sagte Hare einmal von seiner ethischen Theorie, sie sei "von einer nicht-deskriptiven aber nichts desto weniger rationalistischen Art." (R.M. Hare: 'Ethical Theory and Utilitarianism' in: Sen/Williams 1976, S.24).

Bereits in dem ersten Buch "The Language of Morals" schrieb Hare: "Es überrascht nicht, dass der erste Effekt der modernen logischen Forschungen derart war, dass einige Philosophen an der Moral als einer rationalen Aktivität verzweifelten. Es ist die Absicht dieses Buches zu zeigen, dass ihre Verzweiflung voreilig war." (LoM, S.45).

Das Besondere der ethischen Theorie Hares liegt darin, dass er die Möglichkeit rationaler ethische Argumentation gerade mit den Mitteln der logischen Sprachanalyse zu etablieren sucht, die in der britischen Nachkriegsphilosophie dominierte - und zwar derart dominierte, dass man die logische Analyse von Begriffen und Sätzen schließlich als die einzig legitime Aufgabe der Philosophie ansah.

Im Vorwort zu "The Language of Morals" heißt es ganz in diesem Sinne: "Ethik, wie ich sie verstehe, ist die logische Untersuchung der Sprache der Moral" (LoM, S.III) und "Freedom and Reason" beginnt mit dem Satz: "Die Aufgabe der Moralphilosophie – oder zumindest die Hoffnung, mit der ich sie betreibe – besteht darin, uns zu helfen, in Bezug auf moralische Fragen besser zu denken, indem die logische Struktur der Sprache offen gelegt wird, in der dieses Denken ausgedrückt wird." (FaR, S.III).

Hare will zeigen, "wie eine Theorie über die Bedeutungen moralischer Wörter die Grundlage bilden kann für eine Theorie normativer moralischer Argumentation [theory of normative moral reasoning]" (in: Sen/Williams, S.24). Als Resultat seiner logischen Analyse moralischer Begriffe und Sätze in "The Language of Morals" nennt Hare "die drei wichtigsten Wahrheiten über moralische Urteile. Zwei davon sind, dass moralische Urteile eine Unterart präskriptiver Urteile sind und sich von anderen Urteilen dieser Klasse darin unterscheiden, dass sie universalisierbar sind  … [Die dritte Wahrheit] ist, dass es möglich ist, dass zwischen präskriptiven Urteilen logische Beziehungen … bestehen." (LoM, S.4).

Die letztere Behauptung über die Möglichkeit einer Logik präskriptiver Sätze ist heute wohl kaum noch umstritten. Da sie für den Aufbau der ethischen Theorie bei Hare eine geringere Rolle spielt, soll im Folgenden nicht weiter darauf eingegangen werden. Zentral für seine Theorie moralischer Argumentation sind die beiden Thesen über die 'Präskriptivität' und die 'Universalisierbarkeit' moralischer Urteile. Hare bezeichnet seine eigene Theorie deshalb auch als eine "universal präskriptive Theorie [universal prescriptive theory]" (in: Sen/Williams, S.25) bzw. als "universalen Präskriptivismus" (FaR, S.16).

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2. Die handlungsleitende Funktion moralischer Urteile (Präskriptivität):
 

Was ist nun mit der Aussage gemeint, dass moralische Urteile "präskriptiv" sind, dass sie also ebenso wie z. B. einfache Befehle oder ästhetische Urteile zur Klasse der präskriptiven Urteile gehören? Im Unterschied zu deskriptiven (be-schreibenden) Urteilen, die beinhalten, was der Fall ist, haben alle präskriptiven (vor-schreibenden) Urteile nach Hare eine handlungsleitende Bedeutung: "Die Funktion moralischer Prinzipien ist es, das Verhalten anzuleiten [to guide conduct]" (LoM, S.1); und von moralischen Begriffen wie 'gut' oder 'sollen' sagt Hare, "dass sie vorwiegend gebraucht werden, um Rat oder Unterweisung zu geben, oder allgemein gesagt, um Entscheidungen zu leiten." (LoM, S.155). "Um jedoch Entscheidungen oder Handlungen anzuleiten, muss ein moralisches Urteil so beschaffen sein, dass, wenn eine Person diesem Urteil zustimmt, sie auch einem Imperativ zustimmen muss, der davon ableitbar ist." (LoM, S.171) "Der Test, ob jemand das Urteil 'Ich sollte X tun' ['I ought to do X'] als ein Werturteil gebraucht oder nicht ist [die Frage]: 'Erkennt er an, dass er dann, wenn er diesem Urteil zustimmt, auch dem Befehl 'Lass mich X tun' ['Let me do X'] zustimmt?'" (LoM, S.168f.) "Wenn er erklärt, dass er dem moralischen Urteil zustimmt aber nicht dem Imperativ, so muss er das moralische Urteil missverstanden haben, indem er es nicht als wertend ansah [während der Sprecher es bewertend meinte]. Insofern läuft die Aussage, dass moralische Urteile Handlungen leiten, und die Aussage, dass sie Imperative implizieren, nahezu auf dasselbe hinaus." (LoM, S.172).

Dem handlungsleitenden präskriptiven Charakter moralischer Urteile, die Antwort geben auf die Frage: "Was soll ich tun?", werden nach Hare all jene Theorien nicht gerecht, die versuchen, Wertbegriffe wie 'gut' in deskriptive Begriffe zu übersetzen bzw. mit diesen logisch äquivalent zu setzen. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn 'gut' per Definition gleichgesetzt wird mit 'Glück fördernd', wie es nach Hares Auffassung die älteren Utilitaristen getan haben, die damit einen 'naturalistischen Fehlschluss' begangen haben.

Er schreibt: "Wertbegriffe haben eine besondere Funktion in der Sprache, nämlich zu empfehlen [to commend]; und deshalb können Sie offensichtlich nicht mit Hilfe anderer Worte definiert werden, die selber nicht diese Funktion erfüllen; denn wenn das getan wird, sind wir der Mittel zur Erfüllung dieser Funktion beraubt." (LoM, S. 91) "Wir können nicht sagen, dass 'X ist ein gutes A' dasselbe bedeutet wie 'X ist ein A, das C ist', denn dann wird es unmöglich, As zu empfehlen, die Cs sind, indem man sagt: 'As, die Cs sind, sind gute As.'" (LoM, S.89) "Empfehlen ist eine andere Art sprachlicher Aktivität als Definieren. (LoM, S.91) Dies ist Hares Hauptargument gegen jegliche Art von Naturalismus oder Deskriptivismus bei der Interpretation moralischer Urteile.

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3. Die Universalisierbarkeit moralischer Urteile
 

Als nächstes bleibt noch zu klären, was Hare mit der Universalisierbarkeit moralischer Urteile meint. Er sagt: "Indem ich ein Urteil 'universalisierbar' nenne, meine ich nur, dass es den Sprecher logisch zwingt, ein ähnliches Urteil über alles zu machen, was dem Gegenstand des ursprünglichen Urteils entweder genau gleicht … oder ihm in den relevanten Aspekten gleicht. Die relevanten Aspekte sind jene, die die Grundlage für das ursprüngliche Urteil bildeten." (FaR, S.139f.)

Hare gibt zur Veranschaulichung ein Beispiel aus dem ästhetischen Bereich: "Angenommen es gibt zwei Gemälde, die einander sehr gleichen. Wenn jemand das eine als 'gut' bezeichnet und das andere nicht, so ist er zu der Aussage gezwungen, dass es irgendeinen Unterschied zwischen den Gemälden geben muss, da er sie hinsichtlich ihrer Güte differieren lässt. Und wenn es akzeptiert ist, dass es zwischen zwei Gemälden, von denen das eine gut ist und das andere nicht, irgendeinen Unterschied geben muss, dann folgt daraus, dass jemand, der ein Gemälde als 'gut' bezeichnet, gezwungen ist, irgendein anderes Gemälde [ebenfalls] als 'gut' zu bezeichnen, das diesem genau gleicht. … Wenn jemand meint, dass einige Aspekte möglicherweise nicht relevant sind, so muss er der Ansicht sein, dass jemand auch dazu gezwungen ist, solche Gemälde als 'gut' zu bezeichnen, die dem ersteren zwar nicht völlig gleichen, aber ihm in den relevanten Aspekten gleichen – das sind jene, die für ihn die Gründe darstellten, um das erstere Gemälde als 'gut' zu bezeichnen." (FaR, S.140f.)

Universalisierbarkeit in diesem Sinne kommt auch deskriptiven Urteilen zu. Auch bei der Beschreibung von Sachverhalten bin ich gezwungen, ein ähnliches Urteil über alles zu machen, was den Gegenstand des ursprünglichen Urteils in den relevanten Aspekten gleicht. "Wenn jemand sagt, dass ein Ding rot ist, so ist er zu der Auffassung gezwungen, dass etwas, das diesem in den relevanten Aspekten gleicht, ebenfalls rot ist. (FaR, S.11). Täte er das nicht, so würde er das Wort 'rot' falsch gebrauchen [misuse the word 'red']. Die Universalisierbarkeit bestimmter Sätze hängt eng mit ihrer Begründung zusammen: Ich fälle über einen bestimmten Gegenstand ein Urteil, weil er bestimmte Aspekte besitzt. Diese Aspekte stellen die Gründe meines Urteils dar, und das Vorhandensein derselben Aspekte an einem andern Gegenstand zwingt mich logisch, über diesen Gegenstand dasselbe Urteil zu fällen." Hare sagt deshalb auch einmal: "Zu universalisieren heißt, den Grund anzugeben." (FaR, S.5) und in einem Vergleich mit der naturalistischen Position führt er aus: "Sowohl der Naturalismus wie auch meine eigene Anschauung legen großen Wert auf die Tatsache, dass wir, wenn wir über etwas ein moralisches Urteil fällen, dieses tun, weil es bestimmte nicht-moralische Eigenschaften besitzt. Insofern behaupten beide Positionen, dass moralische Urteile über partikulare Dinge aus Gründen [reasons] gefällt werden; und der Begriff eines Grundes bringt immer den Begriff einer Regel mit sich, die festlegt, dass etwas einen Grund für etwas anderes bildet. Beide Anschauungen schließen deshalb Universalisierbarkeit ein." (FaR, S.21)

Die Universalisierbarkeit moralischer Urteile erlaubt es, nach den Gründen für ein bestimmtes moralisches Urteil zu fragen bzw. Gründe dafür zu geben. Deshalb versteht Hare seine Theorie als 'rationalistisch' und deshalb verwirft er den Emotivismus, der in einer moralischen Diskussion nur Beeinflussung aber keine Argumentation am Werke sieht.

Im Unterschied zu moralischen Urteilen sind gewöhnliche Befehle und auch Rechtsvorschriften nicht universalisierbar. Wenn der Unteroffizier auf dem Kasernenhof den Befehl gibt: "Abteilung halt!" so ist er nicht logisch gezwungen, jedes Mal an der gleichen Stelle denselben Befehl zu geben.

So viel zur Klärung dessen, was Hare unter der Universalisierbarkeit von Urteilen und insbesondere von moralischen Urteilen versteht. Universalisierbarkeit und Präskriptivität sind diejenigen formalen Eigenschaften moralischer Begriffe, auf die sich Hare beim Aufbau seiner Theorie moralischer Argumentation stützt, was er durch eine logische Untersuchung der moralischen Sprache nachgewiesen zu haben meint.

Dabei könnte nach Hares Auffassung "ein System der Moralität [entstehen], dem sowohl Kant als auch die Utilitaristen beipflichten könnten – Kant wegen seiner Form und die Utilitaristen wegen seines Inhalts." (FaR, S.124) Nach Hares Verständnis führt die Ethik zu "einer Klärung des begrifflichen Rahmens conceptual framework), innerhalb dessen die moralische Argumentation stattfindet. … Der Rahmen diktiert die Form der Argumentation." (FaR, S. 89)

Es gibt (nach Hare) "hauptsächlich zwei Regeln moralischer Argumentation, Präskriptivität und Universalisierbarkeit: Wenn wir in einem konkreten Fall zu entscheiden versuchen, was wir tun sollen [what we ought to do], dann suchen wir nach einer Handlung, die für uns verbindlich ist [to which we can commit ourselves] (Präskriptivität), aber die wir gleichzeitig gewillt sind, als Beispiel eines Handlungsprinzips zu akzeptieren, das anderen unter gleichen Umständen vorgeschrieben wird (Universalisierbarkeit). Falls wir bei der Prüfung einer vorgeschlagenen Handlung feststellen, dass diese im Falle einer Universalisierung Vorschriften ergibt, die wir nicht akzeptieren können, so verwerfen wir diese Handlung als eine Lösung für unser moralisches Problem – wenn wir die Vorschrift nicht universalisieren können, kann sie kein "sollen" werden." (FaR, S. 89f.)

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4. Das Gläubiger-Beispiel
 

Hare verdeutlicht diese Form moralischer Argumentation an einem Beispiel: "A schuldet B Geld, und B schuldet C Geld. Nach dem Gesetz können Gläubiger ihre Schuldner ins Gefängnis bringen, um ihre Schulden einzutreiben. B fragt sich: 'Kann ich sagen, dass ich diese Maßnahme gegen A ergreifen soll, damit er zahlt?' Er ist ohne Zweifel geneigt, dies zu tun, bzw. er möchte dies tun. Deshalb würde er bereitwillig der singulären Handlungsanleitung [prescription] zustimmen: 'Lass mich A ins Gefängnis bringen!', wenn es nicht die Frage nach der Universalisierbarkeit seiner Handlungsanleitung gäbe. Aber wenn er diese Handlungsanleitung in ein moralisches Urteil umzusetzen sucht und sagt: 'Ich sollte [I ought] A ins Gefängnis bringen, weil er nicht zahlen will, was er mir schuldet', bedenkt B, dass dies die Annahme des Prinzips beinhalten würde: 'Jeder, der in meiner Lage ist, soll seinen Schuldner ins Gefängnis bringen, wenn er nicht zahlt'.

Aber dann überlegt B, dass C ihm gegenüber in derselben Lage eines unbezahlten Gläubigers ist und dass die Fälle ansonsten identisch sind; und dass, wenn jeder in dieser Lage seine Schuldner ins Gefängnis bringen soll, dann soll auch C ihn selber ins Gefängnis bringen. Und die Annahme der moralischen Handlungsanleitung [prescription] 'C soll mich ins Gefängnis bringen' würde ihn verpflichten [commit], die singuläre Handlungsanleitung zu akzeptieren: 'Lass C mich ins Gefängnis werfen!', denn er muss, wie wir gesehen haben, das Wort 'soll' [ought] präskriptiv gebrauchen; und dies ist er nicht bereit zu akzeptieren.

Aber wenn er dazu nicht bereit ist, dann kann er auch nicht das ursprüngliche Urteil akzeptieren, dass er A wegen seiner Schulden ins Gefängnis bringen sollte." (FaR, S. 90f.)


Zu einer moralischen Argumentation dieser Art gehören nach Hare also drei notwendige Bestandteile: " (1) die Fakten; (2) Logik; (3) Neigungen [inclinations]." (FaR, S. 93) "Das erste Erfordernis [moralischer Argumentation] besteht darin, dass die Fakten des Falles gegeben sein müssen, denn jede moralische Diskussion dreht sich um eine bestimmte Menge von Fakten, seien sie nun wirklich oder angenommen.

Zweitens besitzen wir den logischen Rahmen [logical framework], der durch die Bedeutung des Wortes 'sollen' [ought} bereitgestellt wird (d. h. Präskriptivität und Universalisierbarkeit, die beide notwendig sind, wie wir gesehen haben.) Weil moralische Urteile universalisierbar sein müssen, kann B nicht sagen, er soll A ins Gefängnis bringen, ohne sich damit zu der Anschauung zu verpflichten, dass C, der sich wie angenommen ihm gegenüber in derselben Position befindet, ihn selbst ins Gefängnis bringen soll; und weil moralische Urteile präskriptiv sind, hieße das in der Tat, C vorzuschreiben, ihn [B] ins Gefängnis zu bringen; und dies ist er nicht gewillt zu tun, denn er hat eine starke Neigung, nicht ins Gefängnis zu gehen.

Diese Neigung liefert uns den dritten notwendigen Bestandteil des Arguments: Wenn B eine völlig gefühllose [apathetic] Person wäre, der es buchstäblich nichts ausmachte, was mit ihr oder irgendjemand anderem passierte, so würde das Argument sie nicht erreichen." (FaR, S.92f.)


Hare betont, dass es bei der vorgeführten Methode moralischer Argumentation, die den Handelnden zwingt, nach der Universalisierbarkeit seiner singulären Handlungsnorm zu fragen, nicht darauf ankommt, ob der Handelnde tatsächlich befürchten muss, jemals der Leidtragende der betreffenden Norm zu sein, sondern dass der Handelnde bei der Frage nach der Universalisierbarkeit der zu prüfenden Handlungsnorm sich den hypothetischen Fall vorstellen muss, dass er selbst in die Lage des andern kommt, und dass er sich dann fragen muss, ob er auch dann noch der Norm zustimmen kann.

Hare sagt: "Wenn C nicht existieren würde, so wäre es für B kein Argument zu sagen: 'Aber in meinem Fall brauche ich nicht zu befürchten, dass jemals irgendjemand in einer Position ist, wo er mir antut, was ich A anzutun gewillt bin.' Denn das Argument beruht nicht auf irgendeiner derartigen Befürchtung. Allein wesentlich ist, dass B die Tatsache nicht berücksichtigen sollte, dass er eben diese bestimmte Rolle in der Situation spielt, ohne die Neigungen unberücksichtigt zu lassen, die Menschen in Situationen in dieser Art haben." (FaR, 93f.)

Weil es bei der Prüfung der Universalisierbarkeit einer Norm darauf ankommt, sich Fälle vorzustellen, in denen man selber sich in der Lage der anderen befindet, nennt Hare als viertes notwendiges Element moralischer Argumentation die Vorstellungskraft [power of imagination] (FaR, S.94).

Wie aus dem bisher Gesagten sicherlich deutlich geworden ist, führt Hares Interpretation der Forderung nach Universalisierbarkeit zu einer Ethik, die dem Kantschen 'Kategorischen Imperativ sehr ähnlich ist, und Hare setzt auch ausdrücklich beides gleich, wenn er die moralische Problemstellung formuliert in der Frage: "Auf welche Handlung kann ich mich in dieser Situation einlassen [to what action can I commit myself in this situation], wenn ich mir bewusst bin, dass ich, indem ich mich darauf einlasse, jedermann vorschreibe, in einer ähnlichen Situation dasselbe zu tun – kurz gesagt: Was kann ich wollen, dass es ein allgemeines Gesetz werde?" (FaR, 47f.)

Man bemerkt den Kategorischen Imperativ, aber natürlich handelt es sich hier um einen Kategorischen Imperativ auf sprachanalytischer Grundlage.

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5. Zusammenfassung:

Zusammenfassend kann man sagen:

Die Methode Hares ist sprachanalytisch. Durch eine Analyse moralischer Sätze und Worte, wie sie im Alltag gebraucht werden, soll deren Bedeutung bzw. deren logische Struktur erkannt werden.

Hares wichtigste Resultate hinsichtlich der Sprache der Moral sind:

1. Moralische Urteile sind, wie präskriptive Sätze allgemein, einer logischen Behandlung zugänglich.

2. Moralische Urteile sind präskriptiv, d. h. dass die Zustimmung zu einem moralischen Urteil die Zustimmung zu einer entsprechenden Ausrichtung des eigenen Handelns beinhaltet. Damit setzt sich Hare gegen alle Spielarten des Deskriptivismus ab, der eine moralische Argumentation durch Gleichsetzung moralischer Begriffe wie 'gut' mit deskriptiven Begriffen ermöglichen will.

3. Moralische Urteile sind universalisierbar. Das bedeutet zum Beispiel, dass jemand, der eine bestimmte Handlung als moralisch 'gut' bezeichnet, logisch gezwungen ist, alle anderen Handlungen, die der ersten Handlung in den relevanten Aspekten gleicht, ebenfalls 'moralisch gut' zu nennen.

Mit der These von der Universalisierbarkeit moralischer Urteile setzt sich Hare sowohl gegen deren emotivistische Interpretation ab als auch gegen eine extreme Situationsethik, wie sie von manchen Existentialisten vertreten wird, für die jede Situation einzigartig ist.

Hare interpretierte nun das Prinzip, dass man in relevanter Hinsicht gleichartige Handlungen auch gleich beurteilen muss, im Sinne des Kantschen Kategorischen Imperativs: "Wenn wir in einem konkreten Fall zu entscheiden versuchen, was wir tun sollen, dann suchen wir nach einer Handlung, … die wir … gewillt sind, als Beispiel eines Handlungsprinzips zu akzeptieren, das anderen unter gleichen Umständen vorgeschrieben wird." (FaR, S.89)

Dies bedeutet, dass bei der moralischen Beurteilung von Handlungen der bloße Umstand, dass einmal ich es bin, der die Handlungen ausführt und das andere Mal der andere es ist, der die Handlungen ausführt, kein für die moralische Beurteilung relevanter Aspekt sein darf. Dies folgt jedoch keineswegs aus dem allgemeinen Universalisierungsprinzip selber, sondern es folgt nach Hare aus der logischen Struktur des moralischen Begriffs 'sollen' ['ought'].

Hare macht dies am Gläubigerbeispiel deutlich, wo eine Personen A einer anderen Person B Geld schuldet, die wiederum in gleicher Weise C Geld schuldet. Wenn B behauptet, er solle deswegen A ins Gefängnis bringen, aber gleichzeitig bestreitet, dass umgekehrt C ihn [B] ins Gefängnis bringen soll, so äußert B in diesem Fall gemäß Hare überhaupt kein echtes moralisches Urteil, sondern er benutzt das Wort 'sollen' ['ought'] in einem nicht-moralischen Sinne: "Deshalb mag B  … fortfahren, sich selbst vorzuschreiben, A ins Gefängnis zu bringen, aber er hat den Anspruch aufzugeben, dass er die Handlung moralisch rechtfertige, so wie wir das Wort 'moralisch' verstehen." (FaR, S.99).

Wenn B also meint, zwar solle er A ins Gefängnis bringen, aber trotz der ansonsten analogen Sachlage sollte C ihn selbst nicht ins Gefängnis bringen, so ist er damit keineswegs logisch inkonsistent. Denn angesprochen auf die Gründe für die Unterschiedlichkeit beider Fälle kann B darauf verweisen, dass es im einen Fall er selbst ist, der ins Gefängnis geht, und dass es im anderen Fall der andere ist, der ins Gefängnis geht.

Hare würde B in diesem Falle also nicht entgegenhalten, dass dies ein wenig überzeugendes und daher schlechtes Argument sei, sondern er würde nur feststellen, dass B das Wort 'sollen' hier offenbar nicht-moralisch gebraucht. Dann ist er sich zwar mit B darüber uneinig, wie dieser handeln soll, es gibt jedoch keinen moralischen Dissens zwischen ihm und B, da B kein wirklich moralisches Urteil (im Sinne eines personunabhängigen Handlungsprinzips) geäußert hat.

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Teil II: Kritik
 

6. Die Kritik von Mackie:

Nach Hares Ansicht haben wir alle den Begriff 'sollen' im moralischen Sinne eines personunabhängigen Handlungsprinzips gelernt: "Es gibt diesen Begriff 'sollen', dessen Gebrauch wir alle gelernt haben; und den wir insofern von anderen Begriffen unterscheiden können … um so festzustellen, wann wir einen Disput haben über das, was man tun soll, und wann wir irgendeine andere Art von Disput haben." (FaR, S.201).

Hare gründet die Forderung nach personunabhängig formulierten moralischen Normen auf die moralische Bedeutung des Wortes 'sollen', sofern dieses innerhalb moralischer Diskussionen geschieht. Wenn jemand dagegen personabhängige Prinzipien behauptet, bleibt der Dissens mit ihm bestehen – nur dass Hare diesen Dissens nicht als moralischen Dissens verstanden wissen will.

In diesem Sinne schreibt Mackie kritisch zu Hare: "Es ist eine logische These, zu sagen, dass moralische Begriffe Bedeutungen haben derart, dass Urteile, die von ihnen Gebrauch machen, in dieser Weise … universalisierbar sind; aber es ist ein substanzielles praktisches Prinzip, dass Handlungen durch Maximen geleitet werden sollen, die diesen Test bestehen." (Mackie: Ethics, S. 92). Man kann mit völliger Konsistenz sich des Gebrauchs moralischer Sprache überhaupt enthalten oder man kann auch moralische Begriffe nur mit einem Teil ihrer Standardbedeutung verwenden … Eine logische oder semantische Wahrheit bildet keine wirkliche Einschränkung für die Überzeugung [belief]; noch kann sie, analoger Weise, irgend eine wirkliche Einschränkung für Handlung, Präskription, Bewertung oder Strategiewahl sein." (Ethics, S.98) … Es ist kaum mehr als ein terminologischer Punkt zu sagen, dass ein handlungsleitendes Gedankensystem, das die Universalisierbarkeit verletzt, zumindest nicht als eine Moral gelten könne." (Ethics, 99 f.)

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7. Exkurs: Vergleich mit der diskurstheoretischen Position

Die Forderung nach personunabhängigen Handlungsprinzipien lässt sich meines Erachtens besser diskurstheoretisch begründen.

Moralische Äußerungen stellen im Unterschied zu reinen Befehlen echte Urteile dar, d. h. es handelt sich um Behauptungen mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. "Allgemeingültigkeit" einer Behauptung beinhaltet, dass über sie ein rein argumentativer, zwangfreier allgemeiner Konsens möglich sein muss.

Angenommen, im obigen Gläubigerbeispiel stellt B die Behauptung auf, dass zwar er selber den säumigen Schuldner A ins Gefängnis bringen solle, dass C ihnB) jedoch nicht ins Gefängnis bringen soll, wobei die Fälle völlig analog sind.

Insofern es sich dabei um eine Behauptung mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit handelt, kann man B nach der Begründung für diese Behauptung fragen. Wenn B den Unterschied damit begründet, dass in dem einen Fall er selber ins Gefängnis muss und im anderen Fall A ins Gefängnis muss, so hat er zwar einen Unterschied genannt und sich insofern keiner logischen Inkonsistenz schuldig gemacht, aber er hat eine denkbar schlechte Begründung geliefert. Denn sein Verweis auf die eigene Interessenlage ist für niemanden außer für ihn selbst (und vielleicht seine Freunde und Angehörigen) ein Grund der Zustimmung zu seiner Behauptung.

Allgemein gesprochen heißt das: Weil Verweise auf die Interessenlage bestimmter Individuen für andere Individuen mit anderer Interessenlage keine Gründe der Zustimmung zu einer Norm sein können, sind personabhängig formulierte Handlungsprinzipien nicht nachvollziehbar zu begründen.

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8. Die Prinzipien der Personunabhängigkeit, der Positionsunabhängigkeit sowie der neutralen und gleichgewichtigen Interessenberücksichtigung

Bisher haben wir das Prinzip der Universalisierbarkeit im wesentlichen dahingehend interpretiert, dass es vom Handelnden verlangt, eine Handlung, die er bei sich selber für moralisch richtig hält, unter gleichen Umständen auch bei anderen für richtig zu halten. Man kann diese Stufe der Universalisierung als das "Prinzip der Personunabhängigkeit" bezeichnen.

Auf dieser Stufe wird verlangt, dass rein numerische Unterschiede, die also keine Unterschiede der empirischen Beschaffenheit sondern allein Unterschiede der Identität sind, für moralische Beurteilungen irrelevant sind.


Hare ist nun der Ansicht, dass die Universalisierbarkeit moralischer Urteile mehr als dies verlangt, denn bei der Frage, ob man gewillt ist, ein bestimmtes allgemeines Handlungsprinzip zu akzeptieren, muss man auch davon absehen, welche Rolle man selber dabei tatsächlich einnimmt oder in Zukunft wahrscheinlich einnehmen wird. Stattdessen muss man bei seiner Prüfung auch völlig unwahrscheinliche hypothetische Fälle heranziehen, in denen man sich in der Rolle und Position der anderen befindet.

Hare macht diesen Aspekt der Universalisierbarkeitsforderung mit Hilfe einer leichten Abwandlung des Gläubigerbeispiels deutlich: "Angenommen, B vertritt die Position, der Umstand,  dass A  ...  eine schwarze Hautfarbe hat, berechtigte ihn (B), diesen ins Gefängnis zu bringen, aber das C ihm selbst nicht dasselbe antun solle, da seine eigene Haut weiß sei (FaR, 102f.)"

Dazu sagt Hare: "Alles, was wir tun müssen, ist, uns einen identischen Fall vorzustellen, in dem die Rollen vertauscht sind. … Was sagt B über einen hypothetischen Fall, wo er selber schwarze Haut hat und A und C weißhäutig sind? … Wir können ihn bitten, die Tatsache zu ignorieren, dass er in diesem Fall gerade diese bestimmte Rolle spielt. Dies zwingt ihn, als moralisch relevant nur jene Eigenschaften anzusehen, die er auch als relevant anzusehen bereit ist, wenn andere Leute sie haben. Und dies schließt alle Arten von Ausnahmen zum eigenen Vorteil ('special pleading') aus." (FaR, 107f.)

Um demnach zu entscheiden, ob eine Maxime universalisierbar ist, muss man sich in der Vorstellung in die Rolle des andern versetzen und fragen, ob man die Maxime auch als eine Handlungsanleitung für den anderen einem selbst gegenüber akzeptieren könnte. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein solcher Fall tatsächlich eintreten kann oder bloß hypothetisch ist.

Diese Stufe der Universalisierung kann man als "Prinzip der Positionsunabhängigkeit" bezeichnen.

Dass das Absehen von der tatsächlichen eigenen Position und der damit verknüpften Interessenlage bei moralischen Fragen sinnvoll ist, beruht meines Erachtens darauf, dass es sich bei moralischen Urteilen um Behauptungen mit dem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit handelt, denen jeder zwangfrei zustimmen können muss: Nicht nur ich selber in meiner Position sondern auch der andere in seiner womöglich schlechteren Position muss zustimmen können. Es handelt sich dabei nicht um ein sprachlogisch begründetes Prinzip, sondern um ein methodologisch begründetes Prinzip, das sich aus dem Ziel allgemein und dauerhaft konsensfähiger moralischer Urteile bzw. normativer Behauptungen als geeignete Antworten auf unsere moralischen Fragen ableitet.

Aus dem Umstand der Universalisierbarkeit moralischer Begriffe lässt sich nach Hare nun weiterhin ableiten, dass man bei der Prüfung des ins Auge gefassten Handlungsprinzips nicht von den besonderen Neigung ausgehen soll, die man selber in der Lage des andern hätte, sondern von den Neigungen des anderen.

Man kann diese Stufe der Universalisierung als "Prinzip der neutralen Interessenberücksichtigung" bezeichnen.

Auf dieser Stufe muss ich nicht nur von meiner spezifischen Identität und Position absehen, sondern auch noch von meinen spezifischen Vorlieben und Abneigungen. Wenn zum Beispiel jemand, der leidenschaftlich gern Jazztrompete spielt aber klassische Musik langweilig findet, sich vor die Entscheidung gestellt sieht, ob er jetzt Trompete spielen soll – womit er seinen Nachbarn beim Hören seiner geliebten klassischen Schallplatten stört – so darf der Trompeter bei der Universalisierung nicht von seinen eigenen Vorlieben ausgehen. Der Umstand, dass er selbst nur zu gern einen Nachbarn auf seiner Trompete Jazz spielen hören würde, während er sich bei klassischen Platten langweilt, macht deshalb die eigene Handlung, nämlich Trompete zu spielen, wenn der Nachbar Schallplatten hören will, noch nicht universalisierbar.

Nach Hare müsste die Argumentation in diesem Fall so geführt werden, "dass B zugibt, dass er nicht bereit ist, universal vorzuschreiben, dass die Vorlieben und Ableitungen von Menschen durch andere Menschen missachtet werden sollen, denn dies würde die Vorschrift beinhalten, dass andere Leute seine eigenen Vorlieben und Abneigungen missachten sollen." (FaR,  S.113) Mithilfe eines derartigen Arguments können nach Hare auch solche Fälle befriedigend gelöst werden, in denen die Neigungen bzw. Interessen der Parteien differieren.

Aus dem Prinzip der Universalisierung lässt sich nach Hare schließlich ableiten, dass man die Interessen aller Betroffenen gleichgewichtig zu berücksichtigen hat: "Wenn gesagt wird, dass zwei Menschen unterschiedlich behandelt werden sollen, [so muss irgend ein Unterschied genannt werden als Grund für diese unterschiedlichen moralischen Urteile ... Dies ist ein Folgesatz [corollary] der Forderung nach Universalisierbarkeit. Dabei muss betont werden, dass es wie das Prinzip der Universalisierbarkeit selber ein rein formales Prinzip ist, das aus dem logischen Charakter der moralischen Wörter folgt." (FaR, S.118). Dies kann man als 'Prinzip der gleichgewichtigen Interessenberücksichtigung' bezeichnen.

Damit gelangt Hare zu einer utilitaristischen Theorie, also einer ethischen Theorie, die grob gesprochen besagt, dass jeder so handeln soll, dass das Wohl aller am besten gefördert wird.

In dem Aufsatz "Ethical Theory and Utilitarianism" aus dem Jahr 1976 schreibt Hare, dass ich als moralisch Entscheidender "universal für alle Situationen vorschreibe), die der gerade betrachteten Situation gleichen; und insofern schreibe ich für alle Situationen vor, gleichgültig welche der in der Situation vorhandenen Rollen ich selber innehabe. Ich werde deshalb den gleichen Interessen der Inhaber aller Rollen in der Situation ein gleiches Gewicht geben; und, da jeder dieser Rolleninhaber ich selber sein könnte, wird dieses Gewicht positiv sein … Wenn ich versuche, den gleichen Interessen aller Parteien in einer Situation gleiches Gewicht zu geben, so muss sich offenbar einen Nutzen oder Schaden [benefit or harm], der der einen Partei zugefügt wird, als von gleichem Wert oder Unwert betrachten wie ein gleicher Nutzen oder Schaden, der einer anderen Partei zugefügt wird.

Das scheint zu bedeuten, dass ich die Interessen der Parteien dadurch am meisten fördere, und dabei allen gleiches Gewicht gebe, wenn ich die gesamten Nutzen in Bezug auf die ganze Bevölkerung möglichst groß mache; und dies ist das klassische Nutzenprinzip." (In: Sen/Williams  S.25f.)

Die Interessen der betroffenen Personen und deren Gewichtung kann man nach Hare dadurch bestimmen, dass man sich vorstellungsmäßig in die Lage des andern versetzt, wobei zur Lage des andern auch dessen spezifische Interessenstruktur gehört (in: Sen/Williams S.28). " … Wenn meine Handlung die Interessen einer Anzahl von Menschen berührt, und ich mich frage, welchen Handlungsverlauf ich für Menschen gerade dieser Situation universal vorschreiben kann,  dann  muss ich mich vorstellungsmäßig in die Lage der anderen Parteien versetzen (oder, wenn es viele sind, einer repräsentativen Auswahl aus ihnen) und fragen … : 'Wie sehr wünsche ich dies zu haben oder jenes zu vermeiden, (wenn ich mich der Reihe nach in jedermanns Lage versetze)?' (FaR,  S.103).

Durch die vorgetragene Anwendung des Universalisierungprinzips zwingt Hare den moralisch Entscheidenden also, Schritt für Schritt von seinem eigeninteressierten Standpunkt abzugehen und einen unparteiischen, überindividuellen Standpunkt einzunehmen bei der Beantwortung der Frage, wie er handeln soll. Der moralisch Entscheidende muss von seiner Person als solcher, von seiner besonderen Rolle oder Position und sogar von seinen besonderen Vorlieben und Abneigungen absehen und jedermanns Interessen gleichgewichtig positiv berücksichtigen, wenn er sich fragt, welches allgemeine Handlungsprinzip er gewillt ist zu akzeptieren.

Inhaltlich entspricht in die ethische Theorie Hares damit weitgehende der klassischen utilitaristischen Theorie von Bentham und Mill. Die besondere Leistung Hares besteht dagegen in dem Versuch, die utilitaristischen Ethik auf ein sprachlogisches Fundament zu stellen, ein Versuch, der jedoch letztlich als gescheitert angesehen werden muss.

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9. Das Problem des Fanatikers: Die Berücksichtigung von Idealen und Werten
 

Ein Problem, mit dem sich Hare in "Freedom and Reason" intensiv auseinander gesetzt hat, ist das Problem des "Fanatikers". Damit ist jemand gemeint, der sich in seinen normativen Vorstellungen völlig von "Idealen" leiten lässt, die sich nicht von menschlichen Interessen ableiten sondern von Vorstellungen menschlicher Vortrefflichkeit [ideals of human excellence] (FaR, S.149). "Ein moralisches Ideal zu haben heißt, einen bestimmten Menschentypus für einen hervorragend guten Typus zu halten, oder möglicherweise einen Gesellschaftstypus für einen hervorragend guten Typus zu halten." (FaR, S.159)

Ein fanatischer Nazi, der vom Ideal des reinrassigen arischen Menschen und einer Gesellschaft ohne Juden ausgeht, entgeht den Argumenten, die Hare aus der Universalisierung des Eigeninteresses gewinnt. Gegenüber einem fanatischen Antisemiten "hat es keinen Zweck, ihn zu bitten, sich vorzustellen, dass er selber die Charakteristika der Juden besitze und zu bedenken, wie dann seine Interessen wären; denn er glaubt, dass der ideale Gesellschaftszustand angestrebt werden müsse … , sogar wenn die Interessen von Menschen (einschließlich seiner eigenen) geopfert werden." (FaR, S.161) "Wenn es Menschen gibt, die mit einem Ideal so eng verbunden sind, dass sie sich die Leiden der Verfolgten in ihrer vollen Wirklichkeit vorstellen können, und die immer noch universal vorschreiben können, dass diese Verfolgungen im Dienste ihrer Ideale weitergehen sollen, selbst wenn sie selber die Leidtragenden wären, solche Menschen werden von keinem Argument, dass ich entdecken konnte, erschüttert werden. " (FaR, S.184)

In späteren Veröffentlichungen ist Hare allerdings hinsichtlich des "Fanatikers" weniger skeptisch. Die Lösung des Problems wird nun dadurch erreicht, dass Hare Interessen und Ideale in gleicher Weise als Arten von Begehren (desires) auffasst, die bei der moralischen Entscheidung unparteiisch zu berücksichtigen sind. "Für die Zwecke der moralischen Entscheidung macht es keinen Unterschied, wer das Ideal besitzt. Es bedeutet, dass wir die eigenen wie die fremden Ideale unparteiisch zu berücksichtigen haben. Wenn das so ist, dann braucht uns nur diejenige Sorte Fanatiker Sorge zu machen, die ihre Ideale so intensiv verfolgen, dass das diesen zukommende Gewicht, unparteiisch berücksichtigt, gegenüber den zusammengefassten Gewichten aller Ideale, Begehren, Neigungen usw. überwiegt, die bei ihrer Verwirklichung frustriert werden müssen." (In: Sen/Williams 29f.)

Auf diskurstheoretischer Grundlage lässt sich die Frage nach der Berücksichtigung bestehender moralischer Überzeugungen, Ideale und Werte anders beantworten.

Die bestehenden moralischen Überzeugungen der Diskursteilnehmer können deshalb nicht als zu berücksichtigende Aspekte eingebracht werden, weil es im Diskurs ja gerade um die Gültigkeit dieser Überzeugungen geht. Wenn ich mich also vorstellungsmäßig in die Position des anderen hineinversetze, dann muss ich mir nicht seine - womöglich falschen - moralischen Vorstellungen zueigen machen, sondern nur seine nachvollziehbaren Interessen. Bestehende moralische Überzeugungen sind nicht als Argumente zu berücksichtigen, allerdings gehören sie zu den Situationsbedingungen, die bei der Entscheidung zu berücksichtigen sind, z. B. bei der Berücksichtigung von Problemen der Durchsetzbarkeit der diskursiv ermittelten Normen.

 

 

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
    Einzelinteresse und Gesamtinteresse, § 35

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Letzte Bearbeitung 03.10.2005 / 27.03.2015 / Eberhard Wesche

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