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Einzelne moralische Probleme

 

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Inhalt:

Doppelmoral oder moralische Heuchelei
Hat man Pflichten gegen sich selbst?
Wann darf man Lügen?
Ist man zur Hilfeleistung moralisch verpflichtet?
Wann ist man zur Hilfeleistung moralisch verpflichtet?
Wie kann man die Pflicht zur Hilfeleistung begründen?
Zur moralischen Begründung der Entwicklungshilfe
Hinten anstellen!  oder:  Abfertigung nach der Länge der Wartezeit
Ist man moralisch verpflichtet zu arbeiten?
Sterbehilfe und Hilfe zur Selbsttötung
Darf ein Mensch sich selber zu Grunde richten?


Textanfang




 

Doppelmoral oder moralische Heuchelei

Man vertritt nach außen nicht diejenigen moralischen Normen, nach denen man sich tatsächlich richtet. Das heißt z. B., ein Mann hält in der Erziehung und in der Öffentlichkeit die eheliche Treue hoch, während er gleichzeitig ohne Gewissensbisse eine Geliebte hat oder zu Prostituierten geht. Oder jemand vertritt das Prinzip der vorehelichen Keuschheit, nimmt aber für sich unausgesprochen das Recht in Anspruch, "seine sexuellen Erfahrungen zu machen". 

Offiziell ist jeder gegen Schwarzarbeit, aber heimlich hat jeder seine schwarz arbeitende Putzfrau, seine schwarz arbeitenden Handwerker.

Diese doppelte Moral ist problematisch für die moralische Erziehung, denn irgendwann bemerken die Heranwachsenden, dass die propagierte Moral nicht wirklich gilt, und damit gerät die Glaubwürdigkeit der gesamten anerzogenen moralischen Ordnung ins Wanken, die Autorität der Erzieher wird brüchig.

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Offiziell geltende Normen, die nicht durchgesetzt werden und an die sich nur die wenigsten halten, sind problematisch: die Normtreuen "sind die Dummen", denn sie verzichten, während die andern "sich keinen Zwang antun". Ein solcher Zustand kann nicht allgemein akzeptabel sein.

Besonders problematisch sind solche offiziell geltenden, aber weithin gebrochenen Normen, wenn dadurch die Gesetzestreuen im sozialen Wettbewerb Nachteile haben und dadurch also noch für ihre Gesetzestreue bestraft werden. Wenn z. B. viele Baufirmen Schwarzarbeiter beschäftigen, so sind diejenigen Firmen, die das nicht tun, wirtschaftlich nicht mehr konkurrenzfähig und ihnen droht der Konkurs.

Ein anderes Beispiel. Wenn bei Prüfungen die Benutzung von Hilfsmitteln wie "Spickzetteln" oder das Sprechen mit dem Nachbarn verboten ist, dies jedoch kaum kontrolliert wird, so sind die "Ehrlichen die Dummen".

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Hat man Pflichten gegen sich selbst?

Wenn ja, dann wäre Moral nicht nur eine Angelegenheit, die aus dem sozialen Konflikt entsteht. Traditionell gibt es diese Pflichten aus der Vorstellung heraus: Gott hat mich geschaffen und mir Talente und Fähigkeiten gegeben, damit ich diese entwickle und nutze und nicht dem Herrgott den "Tag stehle" (als "Tagedieb" ). Doch das wäre wieder ein äußerer Konflikt, diesmal mit Gott.

Allerdings könnten die Pflichten gegen sich selbst letztlich doch sozialer Natur sein: ich werde ja von meinen Angehörigen gebraucht, von meinem Partner, von meinen Kindern etc., und wenn ich ich mir selber schade, mich zerstöre (Selbsttötung), so schade ich damit ja auch den Angehörigen, denen ich als Kranker zur Last falle (etwa der Gesamtheit der Versicherten, wenn ich nicht auf meine Gesundheit achte), oder denen ich nach der Selbsttötung ganz fehle.

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Zu der Kontroverse, ob Moral immer bezogen ist auf das Verhältnis zu anderen, oder ob es eine Moral auch im Verhältnis eines Individuums zu sich selbst gibt. Der Gläubige hat sich ja immer und sogar in erster Linie vor Gott zu verantworten und nicht nur vor den Mitmenschen. Die Frage ist, ob sich auch ohne das religiöse Weltbild Pflichten gegen sich selbst begründen lassen. Oder ist das alles "meine Sache", die "niemanden etwas angeht" und "in die sich gefälligst niemand einzumischen hat" ? 

Was ist, wenn hinter diesem individualistischem Schutzwall ein Mensch steht, der sich wegen seines selbstzerstörerischen Verhaltens selber verachtet und sich in klaren Stunden selbst die schwersten Vorwürfe macht?

Fast jeder Mensch hat Vater und Mutter, denen das Wohlergehen ihres Kindes "am Herzen liegt". Oder wie Tom Petty singt: "Some Mum is crying, some Dad is sad, when a kid goes bad". Insofern ist die Robinsonade nur eine gedankliche Konstruktion. 

Und in dem Maße, wie ein Gemeinwesen für ihre Glieder eine Schicksalsgemeinschaft ist, wo Krisen und Niederlagen alle betreffen, gibt es auch ein allgemeines Interesse an der Entwicklung der individuellen Fähigkeiten, die indirekt auch den andern zugute kommt.

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Wann darf man Lügen?

Man soll nicht lügen. Warum nicht?  Willst Du belogen werden? Nein? Na also. Andere wollen auch nicht belogen werden. Also ist die Norm "Man soll nicht lügen" allgemein anerkennbar. So einfach ist ethische Argumentation, Begründung von Moral, … oder?.

Ist es wirklich so einfach? Es gibt doch Verhaltensweisen, die alle nicht wollen und die trotzdem nicht verboten sind. Nehmen wir zum Beispiel das Erzeugen von Motorenlärm. (Fast) keiner hört gerne Motorenlärm. Also müsste die folgende Norm allgemein anerkennbar sein: "Erzeuge keinen Motorenlärm (wenn andere das hören können)!" Trotzdem ist z. B. das Autofahren nicht verboten. Weshalb? Weil man vom Autofahren Vorteile hat, weil man schnell und bequem an entfernte Ziele gelangt. Und da alle dies wollen, bleibt das Autofahren erlaubt, auch wenn es mit Motorenlärm verbunden ist. Es findet also eine Abwägung der Interessen statt: Auf die Frage: "Würdest du auf das Autofahren verzichten, wenn es dafür keinen Autolärm mehr gibt?"   würden wohl die meisten mit "Nein" antworten.

Und wie ist das mit dem Lügen? Soll man immer die Wahrheit sagen? Betrachten wir einmal genauer, um was es beim Lügen geht. "Lügen" bedeutet "bewusst die Unwahrheit sagen". Man sagt die "Unwahrheit", wenn es nicht so ist, wie man sagt. Der Lügner kennt also die Wahrheit und sagt trotzdem etwas anderes. Aber der Witzbold sagt auch die Unwahrheit (" war nur ein kleiner Scherz" ) und wenn man nach altem Brauch jemanden "in den April schickt", dann mit Aussagen, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Und es gibt auch die Kunst der Ironie, die für denjenigen, der genau hinhört, als solche kenntlich ist. Man sagt z. B.: "Ich finde den Vortrag wahnsinnig interessant" und drückt damit auf elegante Weise aus, wie sehr er einen gelangweilt hat. Dies ist mit "lügen" nicht gemeint.

Es muss zum bewussten Aussprechen der Unwahrheit offenbar noch der Versuch hinzukommen, andere über die Wirklichkeit zu täuschen, in Ihnen einen Irrtum zu erzeugen. Der Versuch reicht hier aus, denn auch der ist ein Lügner, dem die Lüge nicht geglaubt wird.

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Ist man zur Hilfeleistung moralisch verpflichtet?

Altruismus kann man definieren als eine ethische Konzeption, bei der das Wohlergehen des anderen vorrangig ist gegenüber dem  eigenen Wohlergehen  (oder zumindest gleichrangig mit diesem). Wenn jemand es also freiwillig zu seiner Aufgabe macht, Notleidenden zu helfen, so handelt er altruistisch.

Dabei ist es gleichgültig, welche Motive er sonst noch dabei hat. Er mag  anderen helfen, weil er ein guter Mensch sein will, weil er dem lieben Gott gefallen will oder weil er seinem inhaltsleeren Leben einen Sinn geben will. Unterstellung zweifelhafter Motive, die den Betreffenden herabsetzt und entmutigt, ist hier wohl fehl am Platz.

Etwas anderes ist es, wenn die Aufopferung für andere zur Pflicht  gemacht wird. In diesem Zusammenhang ist mir die These in den Sinn gekommen, dass ethisches Verhalten auf Gegenseitigkeit gegründet sein muss. Das heißt, ich bin nicht zur Hilfe verpflichtet gegenüber jemandem, von dem ich selber in Notlagen keine Hilfe erwarten kann: "Ist die Gegenseitigkeit nicht mehr gewährleistet, erlischt auch die Hilfspflicht."  Ich würde auf den ersten Blick sagen: Da ist was Wahres dran ... aber stimmt das wirklich?

Wenn man fragt, ob eine Norm "richtig" ist, so sollte das Kriterium hierfür nach meiner Auffassung sein, ob diese Norm für alle akzeptabel ist, genauer gesprochen: ob die tatsächliche allgemeine Befolgung dieser Norm für alle akzeptabel ist.

Wenn ich die allgemeinen Befolgung der Norm voraussetze, ist damit zugleich die Gegenseitigkeit der Hilfspflicht gewährleistet, abgesehen von  Fällen, wo jemand keine Hilfe leisten kann oder niemals Hilfe braucht. Es stellt sich aber die Folgefrage: Was ist dann, wenn diese Norm von einigen Individuen nicht befolgt wird? Wenn diese im Notfall keine Hilfe leisten, obwohl sie es könnten, aber  gleichzeitig selber die Hilfe anderer in Anspruch nehmen? Bin ich in dieser Situation weiterhin verpflichtet, die "eigentlich" richtige Norm zu befolgen?

Andere betätigen sich als "Trittbrettfahrer" und ziehen den Nutzen aus der Norm, ohne sich an den Kosten zu beteiligen, während ich brav meine Pflicht tue und im Notfall im Stich gelassen werde. Eine solche Situation schafft "böses Blut" und ist für die "Moral" einer Gemeinschaft kritisch. Und das wohl zu Recht, denn ein solcher Zustand ist sicherlich nicht mehr allgemein konsensfähig. Er gleicht der "parteiischen" Norm, die Ausnahmeregeln für bestimmte Personen enthält.

Ist es eine zulässige moralische Entschuldigung zu sagen: "Aber die andern machen es ja genauso!" ?

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Wann ist man zur Hilfeleistung moralisch verpflichtet?  

Zu fragen ist, ob es sich um eine Pflicht handelt oder ob eine solche Hilfeleistung eine moralisch lobenswerte und vorbildliche Handlung darstellt, die aber dennoch freiwillig bleibt. Beides muss unterschieden werden. Der aufopferungsvolle Einsatz von Mutter Theresa für die Ärmsten mag lobenswert sein, doch wenn man ein solches Handeln zur Pflicht machen wollte, so wäre das sicherlich eine moralische Überforderung der meisten Menschen und kontraproduktiv.

Über den folgenden Satz: "Wenn ein Mensch über mehr Mittel verfügt, als zu seiner Erhaltung nötig ist, und wenn ein anderer Mensch keine Nahrungsmittel besitzt und zu verhungern droht, dann ist es moralisch vorbildlich, wenn der Wohlhabende dem Armen die notwendigen Mittel zum Überleben schenkt" ließe sich meiner Ansicht nach ein allgemeiner Konsens herstellen.

Wenn ein Individuum freiwillig für andere mehr gibt, als man von ihm verlangen kann, so ist ein Konsens leicht möglich: Der Gebende ist einverstanden und die Empfangenden werden auch nichts dagegen haben. Allerdings hätten wir dann nur eine moralische Bewertung aber keine Norm.

Das Problem deutet sich schon in der Formulierung "Verpflichtung zu schenken" an. Genau genommen ist dies ein Widerspruch, wenn "Schenken" als "freiwilliges Übereignen von Gütern an andere"  definiert ist, denn wozu ich verpflichtet bin, soll ich tun, ob ich es nun will oder nicht.

Eine Frage, die sich anschließt, lautet: "Ist es dann moralisch schlecht, nicht zu spenden?" Ließe sich darüber ein allgemeiner Konsens herstellen?

Die Pflicht zur Hilfeleistung steht im Konflikt mit dem Eigentumsrecht: Warum soll jemand verpflichtet sein, von seinem ehrlich und womöglich durch harte Arbeit Erworbenen an andere abzugeben?

Im innerstaatlichen Bereich gibt es allerdings eine derartige rechtlich normierte Pflicht: einmal gibt es die Pflicht, Steuern zu zahlen, mit denen der Staat z. B. die Sozialhilfe an Individuen ohne Einkommen und Vermögen bezahlt.

Und es gibt den Paragraphen im Strafgesetzbuch, der "unterlassene Hilfeleistung" unter Strafe stellt – übrigens eines der wenigen Gebote im Strafrecht.

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Wie kann man die Pflicht zur Hilfeleistung begründen?

Du schreibst: "Die einzige, für mich plausible Begründung ist die der Gegenseitigkeit. Die Hilfspflicht  impliziert ja auch die Pflicht, dass einem selbst geholfen wird, was sicher fast jeder irgendwie wünschen kann." Damit bin ich grundsätzlich einverstanden. Eine entsprechende Norm könnte etwa lauten: "Wenn jemand bemerkt, dass ein anderer sich in Not befindet, so soll er diesem helfen. (Es sei denn, die Not ist selbst verschuldet oder … oder …)". 

Diese Norm ist "unparteiisch" und ohne Bezug auf die Identität der Beteiligten formuliert. Damit erfüllt sie eine notwendige Bedingung für die Konsensfähigkeit. Nicht nur ich bin zur Hilfeleistung verpflichtet, sondern es sind auch alle andern mir  gegenüber zur Hilfeleistung in Not verpflichtet. Eine solche Verpflichtung zur Hilfeleistung erscheint mir eher allgemein konsensfähig als z. B. die alternative Norm "Wenn sich ein Mensch in Not befindet, so ist man nicht zur Hilfe  verpflichtet, sondern jeder muss selber sehen, wie er aus dieser Not wieder herauskommt." Als "Notlage" werden schwerwiegende Beeinträchtigungen und Gefährdungen einer Person  bezeichnet. Dagegen wiegen die  Nachteile, die der helfenden Person zugemutet werden (z. B. dauert die Hilfeleistung längere Zeit, der Helfer muss sein sonstiges Tun unterbrechen, er macht sich seine Kleidung schmutzig ..) weniger schwer. (Deshalb ist auch niemand verpflichtet, die Not eines andern in einer Weise zu beheben, die ihn selber in Not bringen würde.) Wer aber damit rechnen muss, dass er selber auch in schwere Notlagen geraten kann, aus der andere ihn mit geringem Aufwand befreien können – und das muss wohl jeder - der wird eine Verpflichtung zur Hilfe in Notlagen bejahen. Eine Gesellschaft, in der Hilfe in Not geleistet wird, ist für ihn besser als eine Gesellschaft, in der dies nicht getan wird.

Wenn ich Dich richtig verstehe, so geht der Einzelne bei der Frage, ob er eine bestimmte moralische Norm akzeptieren soll, von seinem Eigeninteresse aus, er fragt sich: Ist es für mich besser, wenn die Norm x (Hilfspflicht) von allen befolgt wird als wenn die Norm y (keine Hilfspflicht) von allen befolgt wird? Durch das Kriterium des Eigeninteresses kommst Du zu der   Beschränkung der Hilfspflicht auf diejenigen, von denen man selber auch Hilfeleistungen erwarten kann. Du schreibst: "Ist die Gegenseitigkeit nicht mehr gewährleistet, erlischt auch die Hilfspflicht." Hier möchte ich ein Fragezeichen machen.

Nehmen wir z. B. einen Todkranken, der mir eine letzte Hilfeleistung mit Sicherheit  nicht mehr erwidern kann. Verliert er sein Recht auf Hilfe? Was ist mit von Geburt an Schwerstbehinderten, die ihr Leben lang auf Hilfe angewiesen sind, ohne jemals selber helfen zu  können? Obwohl ich gefühlsmäßig sagen würde, dass es hier auf  Gegenseitigkeit  nicht ankommt, bleibt doch die Frage, was die  Begründung dafür ist, auch diese Menschen mit einzubeziehen.  Hier tun sich noch einige Probleme auf und es sind noch einige harte Nüsse zu knacken. Du stellst z. B. die Frage: Was ist, wenn jemand so stark ist, dass er selber keine Hilfe nötig  hat? Auch dann würde sich unter dem Gesichtspunkt des  Eigeninteresses keine allgemeine Zustimmung zu einer Hilfspflicht ergeben.

Nicht jede Hilfeleistung gegenüber Notleidenden ist vorbildlich. Es kann auch Verschwendung sein, jemandem, der wiederholt sein Geld verjubelt und dann Not leidet, immer wieder mit Geldzuwendungen zu helfen. Insofern gilt das positive Werturteil bezüglich der Hilfeleistung für Notleidende nicht bedingungslos. 

Du formulierst als eine notwendige Bedingung für die  Verpflichtung zur Hilfeleistung, dass der Notleidende "sich nicht aktiv an der Vergrößerung der Ursache seiner Not beteiligt". Man könnte Deinen Gedanken vielleicht allgemeiner formulieren in dem Satz. "Man soll einem Notleidenden helfen, es sei denn, seine Notlage ist selbst verschuldet und er ist diesbezüglich uneinsichtig." Im Übrigen sehe ich für eine unbedingte Pflicht zur Hilfeleistung keine Konsensfähigkeit. Dann wäre man  womöglich dazu verpflichtet, einen Mörder aus der Not jahrelanger Gefängnishaft zu befreien.

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Eine bedingungslose Pflicht zur Hilfeleistung ist meines  Erachtens deshalb nicht allgemein konsensfähig, weil dadurch die Motivation beeinträchtigt wird, sich anzustrengen und die  unvermeidlichen Mühen auf sich zu nehmen, eine nützliche Leistung oder ein wertvolles Gut zu schaffen: Wenn ich weiß, dass es egal ist, ob ich arbeite oder mich vor den Fernseher setze, ob ich sparsam bin oder die besten Dinge verprasse, wenn ich weiß, dass ich die positiven oder negativen Folgen meines Handelns nicht selber tragen muss, dann schwindet meine Motivation, den mühevolleren Weg zu wählen. Und eine allgemeine "Drückebergerei" und Verschwendung führt zu Ergebnissen, die sicher nicht allgemein konsensfähig sind.

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Zur moralischen Begründung der Entwicklungshilfe

Es ist wohl unstrittig, dass das rapide Anwachsen der Weltbevölkerung nicht ungebremst weitergehen sollte, weil das Raumschiff Erde nur begrenzt Lebensmittel bereitstellen kann.

Es gibt dabei einmal das Problem des Verbrauchs nicht erneuerbarer Güter wie z. B. Erdöl. Gefährlicher noch ist jedoch die Zerstörung derjenigen Lebensbedingungen, die das Raumschiff Erde erst bewohnbar machen, wie die Ozonschicht, die vor der Krebs erzeugenden ultravioletten Strahlung schützt. Beide Problembereiche – Verknappung der Ressourcen und Zerstörung von  Lebensbedingungen – werden jedoch nicht nur davon beeinflusst, wie viele Menschen leben, sondern auch davon, wie sie leben.

Unstrittig ist wohl auch, dass durch eine Verbesserung der medizinischen Versorgung in Ländern der Dritten Welt  die Sterberate herabgesetzt wird und dadurch die Bevölkerung zahlenmäßig wächst. Insofern hat die medizinische Entwicklungshilfe unerwünschte Nebenfolgen. Diese unerwünschte Nebenfolgen sollten bedacht werden und durch "flankierende Maßnahmen" wie die Förderung von Empfängnisverhütung ausgeschaltet werden.

Ich halte es jedoch für ethisch nicht gerechtfertigt, wegen dieser Nebenfolgen die Einstellung der medizinischen Hilfe zu fordern. Ich sehe dafür keine allgemein akzeptablen Argumente. Soll ich dem Mann aus Gabun sagen: "Du bekommst keine  Pockenimpfung, weil Du dann länger lebst, womöglich Kinder zeugst und damit die Weltbevölkerung vergrößerst" ?

Generell gilt für mich der methodische Anspruch, dass ich bei Fragen der Entwicklungshilfe allgemein konsensfähige Argumente finde, denen also sowohl die gut versorgten Mitteleuropäer oder Nordamerikaner als auch die Menschen in den unterentwickelten Ländern zustimmen können.

Deshalb darf ich nicht nur aus "meiner Sicht" und Interessenlage argumentieren, sondern
muss mich auch in die Lage der anderen hineinversetzen. Bin ich als einzelner Mensch mit dem Lebensstandard Mitteleuropas in irgendeiner Weise verpflichtet, durch Geldspenden oder praktisches Tun den Hungernden in den armen Ländern der Welt zu helfen – und wenn ja, wie weit geht diese Verpflichtung?

Deine Antwort darauf lautet: "Ich fühle mich nur dann zur Hilfe verpflichtet, wenn der Empfänger der Hilfe bereit ist, diese Hilfe anzunehmen und ferner bereit ist, die Ursachen der Not zu bekämpfen." Du bejahst also die Verpflichtung. Du knüpfst diese Bejahung jedoch an zwei Bedingungen:

1. Der Empfänger der Hilfe muss bereit sein, diese Hilfe anzunehmen.
2. Der Empfänger der Hilfe muss bereit sein, die Ursachen seiner Not zu bekämpfen.

Die erste Bedingung kann man dahingehend interpretieren, dass Du der Regel folgst, dass eine Hilfe zwar angeboten aber nicht aufgezwungen werden soll. Diese Bedingung wird man bei dem Angebot einer finanziellen Hilfe wohl als erfüllbar ansehen können. Hilfsgelder brauchte man wohl niemandem aufzwingen.

Die zweite Bedingung ist schon schwieriger zu erfüllen, denn sie setzt einen Konsens über die Ursachen der Not voraus, was in Bezug auf den Hunger in der 3. Welt eine komplexe  empirische Frage ist. Du siehst die Ursache im übermäßigen Bevölkerungswachstum: "Wenn der Große  Bruder in der 3. Welt den Hunger stillt und sie medizinisch versorgt, es ihm aber nicht gelingt, die Bevölkerungsexplosion zu stoppen, dann löst er das Problem nicht." Man könnte als Ursache des Hungers jedoch auch die instabilen politischen Verhältnisse, die mangelnde Industrialisierung, die ungerechten Preisverhältnisse auf dem Weltmarkt, die Zerstörung der tradierten Kultur durch den Kolonialismus oder die heftiger werdenden Naturkatastrophen (Dürre) anführen.

Die Frage ist, welche allgemeine Handlungsregel Deiner Antwort zugrunde liegt. Ich versuche einmal eine Formulierung dieser Norm, die – wie wir uns ja bereits einig waren -  personunabhängig formuliert sein muss, wenn sie konsensfähig sein soll. Die Regel könnte lauten: "Wenn ein Mensch über mehr Mittel verfügt, als zu seiner Erhaltung nötig ist, und wenn ein anderer Mensch keine Nahrungsmittel besitzt und zu verhungern droht, dann ist der Wohlhabende moralisch verpflichtet, dem Armen die notwendigen Mittel zum Überleben zu schenken. Diese Verpflichtung entfällt, wenn der Arme nicht bereit ist, die Ursachen seiner Notlage zu bekämpfen. Diese Verpflichtung entfällt auch dann, wenn die Beseitigung der Not des Armen neue Notlagen bei anderen Individuen erzeugt."  

In Bezug auf die Verpflichtung des Staates sind die Handlungsregeln wohl analog. Hinzu kommt noch die Regel: "Die Verpflichtung zur Hilfeleistung entfällt außerdem dann, wenn eine andere ebenfalls wohlhabende Institution (katholische Kirche in Lateinamerika) die Notlage verursacht oder deren Beseitigung versäumt oder verhindert hat. In diesem Fall ist zuerst diese Institution zuständig und verantwortlich für die notwendigen Hilfeleistungen."

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Hinten anstellen!  oder:  Abfertigung nach der Länge der Wartezeit

Wenn die Regel gilt: "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst", also Abfertigung entsprechend der Reihenfolge der Ankunft, wird jeweils immer derjenige als nächster abgefertigt, der von allen Wartenden bereits am längsten gewartet hat. Dadurch wird die maximale Wartezeit eines Einzelnen minimiert - nicht jedoch die durchschnittliche Wartezeit.

Die durchschnittliche Wartezeit (und damit die gesamte Wartezeit aller zusammengenommen) wird minimiert, wenn jeweils immer derjenige als nächster abgefertigt wird, dessen Abfertigung am schnellsten geht.

Wenn Marken für die Reihenfolge der Ankunft ausgegeben werden, dann gibt es keinen Streit um die Reihenfolge der Ankunft. Deshalb entfällt das oft anstrengende Platzhalten, das Stehen in der Schlange. Wenn gleichzeitig noch angegeben wird, welche Nummer gerade abgefertigt wird, so kann man sich in etwa ausrechnen, wann man an der Reihe ist. In der Zwischenzeit kann man die Zeit anderweitig nutzen. Dies wird noch verbessert, wenn angezeigt wird, wie lange die Abfertigung pro Person durchschnittlich dauert.

Wenn keine Marken ausgegeben werden und man sich nicht anstellen will sondern im Wartezimmer sitzt, muss jeder neu Ankommende fragen: "Wer war bitte der Letzte?" Er muss sich diesen merken, weil er nach diesem an der Reihe ist. Sehr umständlich.

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Wartezeit ist wahrscheinlich umso beschwerlicher, je länger sie dauert. Vor allem ist sie negativ, wenn man nicht mit einer so langen Wartezeit gerechnet hat.

Wenn zwei Personen einkaufen, stellt der eine sich bereits in die lange Schlange, während der andere noch die Waren aussucht und in den Einkaufswagen legt. Dadurch ist man zu zweit schneller. Ist das gerecht gegenüber denen, die allein kommen? Dafür opfern ja auch zwei Personen Zeit.

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Ist man moralisch verpflichtet zu arbeiten?

Dass jemand lieber etwas anderes tut als zu arbeiten, ist nur normal. Wenn Arbeit jedoch notwendig ist, um die notwendigen Mittel zum Leben zu erzeugen, so wäre die Norm "Niemand braucht zu arbeiten, wenn er lieber etwas  anderes tut" sicher nicht konsensfähig, denn dann würde die  Gesellschaft schnell zugrunde gehen - und wer will das?

Auch die Norm "Janosch braucht nicht zu arbeiten, wenn er lieber etwas anderes tut. Die Mittel zum Leben bekommt er unabhängig davon", wäre nicht konsensfähig. Eine solche, auf die Identität der Individuen zugeschnittene Norm, die also nicht "person-unabhängig" formuliert werden kann, ist wegen  der darin enthaltenen, sachlich nicht begründeten Ungleichbehandlung der Individuen grundsätzlich nicht allgemein konsensfähig. Warum sollten andere, die genauso wie Janosch lieber weniger arbeiten würden als mehr, auch zustimmen, dass sie mehr arbeiten müssen, um Janosch  durchzufüttern?

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Sterbehilfe und Hilfe zur Selbsttötung


Soll Tötung auf Verlangen erlaubt sein?

Zuerst muss Einigkeit über die Frage bestehen, die  beantwortet werden soll. Man könnte sie so formulieren: "Soll ich einen Menschen töten, der mich ernsthaft und wiederholt darum bittet, weil er dies selber nicht tun kann und andernfalls ohne Aussicht auf Besserung schrecklich leiden müsste?"

Es bringt wenig, wenn jemand auf diese Frage einfach mit "Ja" oder "Nein" antwortet. Daraus könnte sich höchstens ein Meinungsbild ergeben, man  könnte daraus jedoch nicht lernen, wie in einem anderen Fall zu entscheiden ist, es sei denn, dieser wäre mit dem ursprünglichen Fall völlig identisch. Um das zu wissen, müsste jeder die Gründe für seine Antwort nennen.

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Um konkret zu werden, nenne ich einige Gründe, die für "nein" sprechen:

1. Der Fall setzt voraus, dass die Zukunft bekannt ist. Da wir uns hinsichtlich der Zukunft niemals völlig sicher sein können, ist die reale Entscheidungssituation immer anders als in der Frage vorausgesetzt wird. Wenn ich ihn aber töte, obwohl er hätte überleben können, dann ist das eine äußerst schlimme Angelegenheit. Wenn es richtig ist, dass man einen Menschen nicht unnötig töten darf, und auch nicht das geringste Risiko hierfür zulassen darf,  dann folgt daraus, dass die Antwort "nein" richtig ist. 

2. Durch die mit einem "Ja" verbundene "Lizenz zum Töten" kommt es zu einer Herabsetzung der vorhandenen psychischen  Hemmung, Menschen zu töten. Wenn diese Tötungshemmung eine Eigenschaft ist, die sich in anderen Situationen äußerst positiv auswirkt, und wenn es richtig ist, dass man derartige Persönlichkeitseigenschaften nicht abbauen sollte, dann folgt  daraus, dass "nein" richtig ist.

3. Wenn man erstmal an einem Punkt die gezielte Tötung von Menschen erlaubt, dann wird es schwer, irgendwo eine für jedermann klare Grenze zu ziehen. Deshalb muss an der klaren  Grenze festgehalten werden: Die gezielte Tötung von Menschen  ist grundsätzlich nicht zulässig. Dann muss auch in diesem Fall die Antwort "nein" lauten.

4. Selbst wenn es tatsächlich so wäre, dass die Tötung in diesem Fall gerechtfertigt werden könnte, so könnte eine entsprechende Erlaubnis missbraucht werden. In allen Fällen, in denen keine glaubwürdigen Zeugen oder andere Beweise vorhanden sind, kann jemand, der einen andern Menschen getötet hat und dem dies vorgeworfen wird, behaupten: "Ich habe nur getan, was er das von mir gewollt hat." Damit wird die Verfolgung von Kapitalverbrechen erschwert und womöglich werden dadurch Individuen erst angeregt, einen als "Tötung auf Verlangen" getarnten Mord zu begehen. Wenn es richtig ist, derartige Ausflüchte  nicht zu begünstigen, dann ist es auch richtig, die Frage mit "nein" zu beantworten. 

Was spricht für die Antwort "ja" ? 

1. Wenn es richtig ist, dass man Menschen ihre Wünsche  möglichst erfüllen soll, so sollte man auch diesen ernsthaften und festen Wunsch, zu sterben erfüllen. Die Frage ist deshalb mit "Ja" zu beantworten.

2. Wenn es richtig ist, dass man Menschen extremes Leiden ersparen soll und wenn es beim Überleben des Betreffenden zu  diesem Leiden mit Sicherheit kommen wird, so ist die Antwort "ja" richtig, weil es dann zu einer schnellen und schmerzlosen  Beendigung des Lebens kommt. 

 3. Wenn es richtig ist, dass alle mündigen Menschen das recht haben, über sich selbst frei zu verfügen, dann schließt das auch das Recht ein, über die Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden. Deshalb muss die Frage mit "ja" beantwortet werden.

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 1. Darf man jemandem, der nicht mehr weiterleben will, die fehlenden Mittel dazu beschaffen? (Beihilfe zur Selbsttötung)

2. Darf man jemanden auf dessen Verlangen hin töten? (Töten auf Verlangen)

Diese ethischen Fragen sind nicht völlig identisch mit den zugehörigen rechtspolitischen Fragen:

3. Soll der Gesetzgeber Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe stellen?

4. Soll der Gesetzgeber Tötung auf Verlangen unter Straftat stellen?

Die ethische und die rechtspolitische Frageebene müssen auseinander gehalten werden, weil es zu unterschiedlichen Antworten kommen kann.

Im Falle einer Bejahung dieser Fragen muss dann jeweils ergänzend die Frage nach möglichen einschränkenden Bedingungen gestellt werden. Ich will mich im Folgenden nur mit "Töten auf Verlangen" beschäftigen.

Wenn man von religiös bestimmten Verboten absieht, macht offenbar die Tötungshandlung als solche keine Probleme. (Es gibt jedoch das "Dammbruch-Argument" und das "Verrohungs-Argument".)

Aus sehr allgemeinen Normen oder Werturteilen wie:

- "Jeder hat das Recht über sich selbst zu bestimmen",

- "Es ist unter sonst gleichen Umständen besser, wenn einem Menschen ein Wunsch erfüllt wird, als wenn ihm die Erfüllung dieses Wunsches verwehrt wird",

 - "Füge anderen so wenig Schmerz wie möglich zu!"

lässt sich die bejahende Antwort mehr oder weniger zwingend ableiten: "Wenn Menschen über sich selbst bestimmen dürfen, dann dürfen sie auch über das Ende ihres Lebens bestimmen." "Wenn es unter sonst gleichen Umständen besser ist, einem Menschen seinen Wunsch zu erfüllen, dann gilt dies auch für den Wunsch zu sterben." "Wenn es richtig ist, andere Menschen möglichst wenig Schmerz erleiden zu lassen und wenn durch deren Tötung dies erreicht wird, dann sollte man sie töten."

Die Frage ist, ob diese sehr allgemeinen Prämissen unstrittig sind. Ich will auf einige Probleme aufmerksam machen: "Jeder hat das Recht, über sich selber zu bestimmen."
Ja, aber was ist mit Kindern oder Menschen, die zeitweise geistig verwirrt sind? "Wunscherfüllung ist etwas Gutes".
Ja, aber was ist mit Wünschen, die sich missgünstig gegen andere richten oder Wünschen mit schädlichen Folgen für einen selbst? "Verringerung menschlichen Leidens ist etwas Gutes."
Ja, aber darf ich dann die Leiden eines andern auch ohne dessen Zustimmung verringern?

Das zentrale Problem scheint es zu sein, den Willen eines Menschen zum Sterben zweifelsfrei festzustellen. Hier setzen auch die meisten Einwände an. Das Problem der Willensbestimmung ist hier aus drei Gründen wichtig:

1. weil die Entscheidung unwiderruflich ist,

2. weil man einen Toten nicht mehr danach befragen kann, ob es wirklich sein Wille war zu sterben und

3. weil die Menschen, um die es geht, als Schwerkranke in einer besonders hilflosen und abhängigen Lage sind, aus der heraus es immer schwer ist, sein eigenes Interesse u. U. auch gegen andere zu formulieren.

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Kann man die Interessen von Verstorbenen verletzen? Oder bezieht man sich genau genommen immer indirekt über andere, z. B. die Nachkommen, auf die Verstorbenen?

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Darf ein Mensch sich selber zu Grunde richten?

Hat sich jemand, der sich durch den Konsum von Suchtmitteln zu Grunde richtet, deswegen etwas vorzuwerfen? Und wenn ja, aus welchem Grunde? Ist sein Verhalten zu billigen? Und wenn nein, warum nicht? 

Also: Hat sich derjenige, der nach einigen Jahren Alkohol- oder Heroingenusses ein körperliches und geistiges Wrack ist, etwas vorzuwerfen?

Ich sehe dazu verschiedene Meinungen.

1. Dies geht niemanden etwas an, sofern er nur sich selber geschadet hat. Alles andere ist eine unzulässige Einmischung in die privaten Angelegenheiten eines Menschen unter einem zweifelhaften Vorwand nach dem Muster: Ich muss mich um dein Seelenheil kümmern, deshalb muss ich mich in alles einmischen, was du denkst und tust.

2. Dagegen steht der Einwand, dass niemand für sich allein in dieser Welt lebt und dass praktisch immer andere in Mitleidenschaft gezogen werden. Fast jeder hat z. B. Eltern, die viel für ihn getan haben und deren Hoffnungen durch eine solche Suchtkarriere aufs tiefste enttäuscht werden. Entsprechendes gilt für Kinder oder Partner, die ebenfalls darunter zu leiden haben.

Dass eine solche Suchtkarriere die anderen zu kostspieliger Hilfe verpflichtet, ist dann relevant, wenn der Süchtige diese Hilfe selber als sein gutes Recht fordert oder auf diese Hilfe rechnet.

3. Durch Drogenkonsum und Drogenabhängigkeit wird der normale Wille eines Menschen geschädigt. Seine Fähigkeit zur Selbststeuerung ist beeinträchtigt. Deshalb darf man diesen Menschen nicht sich selbst überlassen.


4. Jeder hat in sich ein Ethos, einen ethischen Willen hat, der -  bei angemessener Wahrnehmung und Kenntnis der Sachlage -  das Verhalten des Süchtigen missbilligt und einen selbst verpflichtet, helfend einzugreifen.

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Es muss dazu wohl zwischen zwei Formen der Selbstzerstörung unterschieden werden, der Selbsttötung eines Lebensmüden und dem gesundheitlichen Raubbau des Rauschmittelabhängigen.

Meiner Meinung nach gibt es Situationen, in denen gegen eine Selbsttötung moralisch nichts einzuwenden ist. Ich denke etwa an einen alten, allein lebenden Menschen, der unter einer schmerzhaften, unheilbaren Krankheit leidet, die ihn ans Bett fesselt. Wenn dieser Mensch sich dafür entscheidet, sein Leben selbst bestimmt und bei klarem Verstand zu beenden, so sollte man diese Entscheidung respektieren. 

Diese moralische Unbedenklichkeit gilt selbstverständlich nicht für jede Selbsttötung.

Dagegen ist der gesundheitliche Raubbau des Drogensüchtigen immer abzulehnen. Bei einer entwickelten Sucht ist die Frage, ob der Süchtige die gesundheitsschädlichen Drogen konsumieren darf, eigentlich schon obsolet, denn der moralische Appell ist gegenüber der Sucht machtlos.

Moral spielt allerdings eine wichtige Rolle bei allen Handlungen, die zur Sucht hin führen. (Dabei verstehe ich unter Sucht nicht jede kleine "Schwäche", sondern den Konsum von Stoffen, die zu körperlichen und psychischen Entzugserscheinungen führen. Ich halte Sucht nicht für ein Randproblem sondern für eines der Hauptprobleme unserer Zeit.)

Den Dealer, der andere – die womöglich noch im jugendlichen Alter sind - zur Sucht verleitet, trifft zu Recht die tiefste moralische Verachtung. 

Jeder, der an der Sucht der anderen verdient und deshalb deren Sucht fördert, handelt moralisch verwerflich.

Aber auch das leichtfertige Spielen mit und Probieren von "harten" Suchtmitteln ist moralisch zu verurteilen, weil die Abhängigkeit schleichend und unmerklich eintritt, gedeckt von Verharmlosung und Selbsttäuschung.

Die zeitlich begrenzte Entmündigung Süchtiger, die immer größere Mengen an Drogen benötigen, halte ich für moralisch gerechtfertigt, wenn sie dadurch vor dem absehbaren vorschnellen Tod bewahrt werden. Das wird auch der Süchtige selber in seinen klaren Momenten akzeptieren.


Position1: 

Ein Mensch darf sich nicht selber zerstören und man darf nicht untätig zusehen, wie ein Süchtiger sich selbst zerstört. Man darf und soll ihn daran hindern, notfalls durch zeitlich begrenzten Zwangsentzug.

In der Begründung lassen sich zwei Positionen unterscheiden:

Position 1a:  Diese Antwort ist Ausdruck des ethischen Wollens, das in mir (und auch in anderen?) ist.

Position 1b:  Zwangsentzug ist auch gegenüber dem Süchtigen zu rechtfertigen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der ehemals Süchtige nach der Überwindung der Sucht dem Zwangsentzug nachträglich selber zustimmen wird.

Position 2:  Erwachsene Menschen sollten in ihrer Selbstbestimmung niemals eingeschränkt werden, auch wenn sie sich selber zerstören. Voraussetzung ist jedoch, dass sie dadurch anderen nicht zur Last fallen. Sie haben deshalb keinen Anspruch auf Hilfe, es sei denn, diese Hilfe wird von den Süchtigen über eine Drogensteuer selber getragen.

Position 3:  Wenn Menschen sich selbst zerstören, dann sind sie psychisch krank und brauchen eine Behandlung. Eine Zwangsbehandlung ist ein unzulässiger Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung. In jedem Fall haben die Süchtigen einen uneingeschränkten  Anspruch auf Hilfe.

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Die Frage ist, ob sich ein Mensch selbst zerstören darf  und ergänzend dazu, ob man einen Menschen daran hindern darf oder soll, sich selbst zu zerstören.

Ich gehe einmal davon aus, dass Selbstzerstörung im Falle des Süchtigen einen Schaden für den Betreffenden und in der Regel auch für andere bedeutet. (Im Falle einer Selbsttötung muss dies nicht der Fall sein.)

Gibt es eine Lösung, die allgemein akzeptabel ist? Eine Antwort wäre: 

Jeder darf machen, was er will, sofern er nicht andere schädigt. Wenn sich jemand selbst zerstören will, dann geht das die andern nichts an, solange sie dadurch keine Nachteile erleiden. Wenn der Selbstzerstörer aber als arbeitsunfähiges gesundheitliches Wrack jahrelang auf Kosten der Allgemeinheit medizinische Hilfe, soziale Betreuung, Ernährung, Wohnung und Kleidung erhält, dann hat sein Verhalten negative Auswirkungen auf andere und diese haben entweder das Recht, ihn an der Selbstzerstörung zu hindern, oder sie dürfen ihm die Hilfe zu verweigern. 

Eine andere, meines Erachtens nach bessere Antwort wäre:

Jeder darf grundsätzlich in den Angelegenheiten, die vor allem ihn selbst betreffen, tun und lassen, was er will. Es gibt jedoch Fälle, in denen die normale Fähigkeit des Menschen zur Selbststeuerung außer Kraft gesetzt ist und sein Handeln durch eine Sucht bestimmt wird. 

Kriterium dafür, ob jemandem in diesem Sinne die normale Fähigkeit zur Selbststeuerung fehlt, ist letztlich sein eigenes Urteil nach der Befreiung von der Sucht. Er muss selber zu der Einsicht kommen, dass das, was er als Süchtiger wollte, nicht seinem eigentlichen Willen entsprach. 

Dies Kriterium ist erst im Nachhinein anwendbar. Man kann jedoch in Kenntnis dessen, wie eine Sucht die eigene Persönlichkeit verändert - für den Fall, dass man selbst davon betroffen ist - bereits im Voraus andern bestimmte zeitlich begrenzte Rechte zur Einschränkung der eigenen Handlungsfreiheit geben (z. B. zum Zwangsentzug), sofern ernste Gefahren für die eigene Gesundheit und das eigene Leben bestehen.

Bei allen Risiken einer solchen Freiheitsbeschränkung halte ich eine solche Lösung (die im Einzelnen noch weiter entwickelt werden müsste) für grundsätzlich allgemein akzeptabel.

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Die erste Frage ist die, ob ein selbstzerstörerisches Verhalten überhaupt einen Schaden bewirkt, sei es für den Selbstzerstörer, für seine Angehörigen oder für die Allgemeinheit. 

Wenn man dies verneint, gibt es damit kein Problem. Falls jedoch ein Schaden gesehen wird, bleibt die Frage, wie man diesen Schaden vermeiden kann und ob es richtig ist, dem Einzelnen freizustellen, ob er sich selbst zerstört. 

Eine Meinung war: Ja man darf das, denn jeder ist Eigentümer seines Körpers und ein Eigentümer darf mit seinem Eigentum nach Belieben verfahren. Die Frage verschiebt sich damit auf die Rechtfertigung eines unbeschränkten Eigentums am eigenen Körper.

Eine Frage, die mit der Ausgangsfrage zusammenhängt, ist die Frage, ob Menschen, die sich derart zugrunde gerichtet haben, einen moralischen Anspruch auf Hilfe haben. Sind die andern moralisch verpflichtet, denjenigen, der sich selbst zugrunde gerichtet hat, in gleicher Weise zu unterstützen wie sie das bei Menschen sind, die Opfer eines Unfalls geworden sind?

Die andere Frage, die mit der Ausgangsfrage zusammenhängt, ist die Frage, ob andere das Recht oder gar die Pflicht haben, ein selbstzerstörerisches Verhalten zu unterbinden, auch wenn es sich um Erwachsene handelt.

Hier wird man zusätzlich fragen müssen, inwieweit die Selbstzerstörung dem Betreffenden zuzurechnen ist. Wenn dies nicht der Fall ist, weil der Betreffende die Fähigkeit zur Selbststeuerung verloren hat (Sucht als Krankheit) , ergibt sich die Frage, ob damit als Konsequenz auch die Grundlage seiner Mündigkeit - zumindest zeitweilig - verloren gegangen ist. 

Eine Bestrafung des Selbstzerstörers scheint unangebracht, denn wer als geistiges und körperliches Wrack endet, der ist bestraft genug. Das Strafgesetz würde wohl mehr schaden als nützen.

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Selbstzerstörung ist gegeben, wenn ein Mensch entweder sich selbst tötet oder wenn ein Mensch sich so verhält, dass vorhergesagt werden kann, dass er deswegen in absehbarer Zeit nicht mehr in der Lage sein wird, einen Beitrag zur Erhaltung seiner eigenen Existenz zu leisten.

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Wenn mich jemand töten will, so bin ich berechtigt, ihn vorher notfalls meinerseits zu töten. Aufgrund der Notlage bin ich entschuldigt. Wenn die andern lügen, ihre Versprechen nicht halten und ihre Arbeitspflichten nicht erfüllen, dann entfällt auch für mich die Pflicht dazu, denn dadurch werde ich noch schlechter gestellt als ohne Norm, d. h. ich kann nicht mehr zustimmen.

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
 

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Letzte Bearbeitung 02.06.2008 / Eberhard Wesche

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