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Demokratie und Amtsgedanke bei W. Hennis

 

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Darstellung
Kritik


Darstellung

Wilhelm Hennis vertritt eine Konzeption von Demokratie, die den modernen Parlamentarismus nicht im Sinne einer Repräsentation von Interessen versteht. In seinem Aufsatz "Amtsgedanke und Demokratiebegriff (1962)", wiederabgedruckt in Wilhelm Hennis: Die missverstandene Demokratie. Herder Freiburg i.B. 1973  schließt Hennis ausdrücklich an die Konzeption von Aristoteles an, wenn er schreibt, "dass der uns aufgegebene Begriff der Demokratie ... nur auf dem Hintergrund der älteren politischen Theorie verständlich wird." (Hennis S.10)

Demokratie ist demnach Hennis nur dann "zu den guten Herrschaftsformen zu rechnen", wenn man daran festhält, "dass alle herrschaftliche, politische Gewalt Amtsgewalt ist" (Hennis S.9). Auch die Demokratie ist eine Ordnung von Ämtern. Wesentlich ist, dass sich mit dem Amt eine Verpflichtung zur Orientierung am Gemeinwohl verbindet: "Wo immer der Gedanke des gemeinen Besten im Mittelpunkt der politischen Begriffswelt steht, ist der Amtsgedanke ihm beigesellt." (Hennis S.12)

Nach Hennis messen wir tagtäglich "jeden Abgeordneten, jeden Minister, jeden Beamten ... an einem uns vorschwebenden Modell des guten, seiner Aufgaben und Pflichten bewussten Inhabers eines solchen Amtes." (Hennis S.12)

Selbst den einzelnen Bürger in einer Demokratie sieht Hennis nicht als Träger von Interessen sondern als eine Art von Amtsträger. Hennis verdeutlicht diese Auffassung anhand eines Artikels der Verfassung eines Schweizer Kantons, worin es heißt: "Richtschnur der Landgemeinde (also der Versammlung der stimmfähigen Bürger) soll nur das Recht, die Wohlfahrt des Vaterlandes, nicht aber Willkür oder die Gewalt des Stärkeren sein, - über die Abgabe seiner Stimme ist das Volk und der Einzelne nur Gott und seinem Gewissen verantwortlich." (Hennis S.10f.)

Hennis schreibt dazu: "Die Landgemeinde, die sich dieser Ermahnung verpflichtet fühlt, ist kein plebiszitäres, sondern eine repräsentatives Organ; sie wird Macht nicht als Kompetenz, als juristischen Anspruch, sondern als Pflicht, als anvertrautes Gut, als anvertrautes Amt verstehen." (Hennis S.11)

In diesem Sinne interpretiert Hennis dann auch den modernen Parlamentarismus. Parlamentswahlen sind nicht so sehr Verfahren zur Ermittlung der Interessen der Bürger als vielmehr der Ausdruck des Vertrauens in bestimmte Kandidaten für das Amt des Abgeordneten. "Vertrauen ist die seelische Grundlage der repräsentativen Demokratie, und alle politischen Auseinandersetzungen haben ihren Sinn weniger im Kampf um Stimmen und Macht als um Vertrauen." (Hennis S.12) "Wie für jede andere politische Ordnung so gilt auch für die Demokratie, dass Herrschaft eine der Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl verpflichtete Aufgabe" (Hennis S.12) ist und dass jede herrschaftliche Aufgabe ein "anvertrautes Amt" ist. (Hennis S.11)

Der Unterschied zu den älteren Herrschaftsformen wie etwa der Monarchie liegt nur darin, dass in der Demokratie das Volk der Souverän ist, der die Amtsinhaber beruft: "Wenn die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, so bedarf man zu ihrer Ausübung eben des Vertrauens des Volkes." (Hennis S.14)

Wenn die politischen Amtsinhaber zur Verfolgung von Gemeinwohl und Gerechtigkeit moralisch verpflichtet sind, so kommt es entscheidend auf ihre moralischen Qualitäten an. Kritisch zum bestehenden Demokratieverständnis in Deutschland bemerkt Hennis: "Würden wir den Tugenden und Untugenden unserer öffentlichen Amtsträger auch nur ein Teil jener Aufmerksamkeit zuwenden, den die Amerikaner und Engländer diesem Gegenstand widmen, statt all unsere Aufmerksamkeit den Modalitäten demokratischer Willensbildung zuzuwenden, stünde es sicher besser um unsere politischen Kultur." (Hennis S.14)

Bei der Wahl der Abgeordneten geht es nach Hennis deshalb vor allem um die persönliche Qualifikation der Bewerber: "Motiv der Parteinahme ist für die überwiegende Mehrheit der Bürger immer noch die Vorstellung, dass sich hinter dem einen Parteinamen, auch wenn man die Kandidaten im Einzelnen nicht kennt, besser qualifizierte, vertrauenswürdigere Bewerber um die öffentlichen Ämter sammeln, als hinter einem anderen. Die Vertrauenswürdigkeit der Person, wozu in einer industriellen Gesellschaft die soziologische Nähe dazu gehört, ist wichtiger als ihre Ideologie. Dies ist nur ein Moment ihrer Vertrauenswürdigkeit." (Hennis S.23)

So weit die Grundgedanken von Hennis. Für ihn ist demnach politische Herrschaft auch in der Demokratie eine dem Gemeinwohl und der Gerechtigkeit verpflichtete Aufgabe, wobei in der Demokratie die Berufung der Amtsinhaber durch allgemeine Wahlen erfolgt.

Kritik

Das große Problem dieser Konzeption verbirgt sich hinter den Begriffen "Gemeinwohl" und "Gerechtigkeit", die Hennis unausgefüllt lässt. Wenn jedoch nicht festzustellen ist, ob ein bestimmtes Handeln am Gemeinwohl orientiert ist, so entfällt auch die Möglichkeit, die politischen Amtsinhaber daraufhin zu kontrollieren und zur Rechenschaft zu ziehen. Hennis scheint das Problem eines formelhaften Gemeinwohlsbegriffs ebenfalls zu sehen, wenn er schreibt: "Was die aufgegebene Bestimmung des Menschen ist, ist nie einer Zeit so unklar gewesen, wie der unsrigen. Damit bleibt der zentrale Begriff aller politischen Theorie, das Gemeinwohl, offen." (Hennis S.25)

Wenn der Begriff des Gemeinwohls jedoch unbestimmt bleibt, so hat das fragwürdige Konsequenzen. Denn den jeweils Herrschenden wird damit eine Art Blankoscheck ausgestellt, der von ihnen nahezu beliebig ausgefüllt werden kann, um bestimmten Gruppen unter Hinweis auf das vorrangige Gemeinwohl die Verfolgung ihrer spezifischen Interessen zu verwehren.

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Die Demokratie bei Rousseau ** (15 K)
 

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Letzte Bearbeitung 26.09.05 / Eberhard Wesche

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